Die Schweigespirale — Elisabeth Noelle-Neumann, 1980

Auf Basis von Umfrageergeb­nis­sen zu den Bun­destagswahlen 1965 sowie 1972 und der Auswer­tung ideengeschichtlich­er Ansätze zur öffentlichen Mei­n­ung hat Elis­a­beth Noelle-Neu­mann über Jahrzehnte hin­weg die The­o­rie der Schweige­s­pi­rale entwick­elt.

Diese bein­hal­tet, daß diejeni­gen, deren Mei­n­ung öffentlich anerkan­nt ist, zum Reden neigen. Die anderen tendieren aus Iso­la­tions­furcht zum Schweigen. Die Grün­derin des Insti­tuts für Demoskopie Allens­bach nimmt an, daß jedes Indi­vidu­um einen qua­si-sta­tis­tis­chen Sinn besitzt, der im Unter­be­wußt­sein die eige­nen Mei­n­un­gen mit denen der Mehrheit abgle­icht. Wenn sich das Indi­vidu­um dann »vor aller Augen« dem Urteil der Öffentlichkeit stellen muß, fällt es ihm auf­grund sein­er sozialen Natur schw­er, vom Kon­sens abwe­ichende Mei­n­un­gen zu vertreten.

Die Erforschung der öffentlichen Mei­n­ung war das Leben­s­the­ma von Noelle-Neu­mann. Bere­its in ihrer Pro­mo­tion über »Mei­n­ungs- und Massen­forschung in den USA« suchte sie nach ersten Ansätzen zum empirischen Nach­weis des Mei­n­ungskli­mas. In Deutsch­land avancierte sie zur bedeu­tend­sten Pio­nierin auf diesem Gebi­et.

Seit der vierten Auflage ihres Werkes, 1996, unter­schei­det Noelle-Neu­mann zwis­chen ein­er man­i­festen und laten­ten Funk­tion der öffentlichen Mei­n­ung. Als man­i­fest beze­ich­net sie den demokrati­ethe­o­retis­chen Ansatz, Öffentlichkeit als eine Kon­trol­linstanz zur Regierung anzuse­hen. In der laten­ten Funk­tion sieht sie jedoch den wirk­mächtigeren Prozeß, durch den sozialpsy­chol­o­gisch Kon­for­mitäts­druck aus­geübt wird, um die Bürg­er in die Gesellschaft zu inte­gri­eren. Damit wider­spricht die The­o­rie der Schweige­s­pi­rale dem Ide­al des mündi­gen Bürg­ers.

Inter­na­tion­al wurde das Werk kon­tro­vers disku­tiert. In Deutsch­land warf man Noelle-Neu­mann vor, sich mit ihrer The­o­rie partei­isch im Hin­blick auf die Kon­ser­v­a­tiv­en zu zeigen, da sie die maßge­bliche Medi­en­macht in den Siebzigern in den Hän­den der Linken sah. Diese Kri­tik greift jedoch zu kurz, weil ihre The­o­rie genau­so funk­tion­iert, wenn die Kon­ser­v­a­tiv­en die Medi­en dominieren wür­den.

Auf­grund ihrer Tätigkeit für die Zeitung Das Reich im Nation­al­sozial­is­mus wurde Noelle-Neu­mann immer wieder per­sön­lich ange­grif­f­en. Der US-Kom­mu­nika­tion­swis­senschaftler Christo­pher Simp­son kam 1996 zu dem Ergeb­nis, ihr gesamtes Werk sei durch­zo­gen von ras­sis­tis­chen und demokratiefeindlichen Ten­den­zen. Deut­lich sach­lich­er und in ein­er der Debat­te dien­lichen Art und Weise posi­tion­ierte sich der Sys­temthe­o­retik­er Niklas Luh­mann zur Schweige­s­pi­rale. Er hielt es nicht für sin­nvoll, der öffentlichen Mei­n­ung eine psy­chis­che Dimen­sion zuzuschreiben. Fol­glich könne man auch nicht von ein­er »laten­ten Öffentlichkeit« sprechen. Das soziale Sys­tem der Massen­me­di­en erfülle die einzi­gar­tige Funk­tion, öffentliche Kom­mu­nika­tion möglich zu machen und nicht, sie in bes­timmtem Maße zu ver­hin­dern.

Diskus­sion­swürdig sind zudem die der Schweige­s­pi­rale zugrun­deliegen­den Prämis­sen. So ist erstens zu bezweifeln, daß der Men­sch tat­säch­lich einen qua­si-sta­tis­tis­chen Sinn besitzt. Umfra­gen bele­gen, daß viele Men­schen das Mei­n­ungskli­ma nicht kor­rekt ein­schätzen kön­nen.  Zweit­ens hat Noelle-Neu­mann keine zufrieden­stel­lende Antwort auf die Gle­ichgültigkeit der Massen und Phänomene wie Poli­tikver­drossen­heit parat. Sie geht impliz­it davon aus, daß sich jed­er eine Mei­n­ung bilden will. Drit­tens über­schätzt sie die Macht der Medi­en und berück­sichtigt die Öffentlichkeit­sar­beit (PR) von Parteien, Ver­bän­den und Unternehmen nur ungenü­gend.

Trotz dieser Män­gel liefert die The­o­rie der Schweige­s­pi­rale wichtige Erken­nt­nisse zur Wirk­mächtigkeit des Mei­n­ungskli­mas. Ins­beson­dere die in den neueren Aufla­gen getätigten Aus­sagen zum Zusam­men­hang von öffentlich­er Mei­n­ung und kollek­tiv­en Emo­tio­nen sind weg­weisend, aber bish­er nur wenig weit­ergedacht. Noelle-Neu­mann deutet hier an, daß die Wahrnehmung des Mei­n­ungskli­mas nicht unbe­d­ingt durch einen Abgle­ich mit der ominösen Mehrheit fein­justiert wird, son­dern die emo­tionalen Erleb­nisse des einzel­nen viel  auss­chlaggeben­der sind. Wenn sein Umfeld auf seine Mei­n­ung mit einem wohlwol­len­den Lächeln reagiert, stärkt dies seinen Stolz und seine Selb­st­sicher­heit. Gerät man hinge­gen durch eigene Äußerun­gen in pein­liche Sit­u­a­tio­nen, ent­fal­tet sich ein Gefühl der Scham, das dem Indi­vidu­um die Gefährdung seines »sozialen Ban­des« anzeigt.

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Zitat:

Die The­o­rie der Schweige­s­pi­rale geht davon aus, daß die Gesellschaft – nicht nur Grup­pen, die sich ken­nen – vom Kon­sen­sus abwe­ichende Indi­viduen mit Iso­la­tion, mit Ausstoßen bedro­ht und daß ander­er­seits die Indi­viduen eine meist unbe­wußte, wahrschein­lich genetisch ver­ankerte Iso­la­tions­furcht haben. Diese Iso­la­tions­furcht ver­an­laßt sie, sich ständig zu vergewis­sern, was an Mei­n­un­gen und Ver­hal­tensweisen in der Umwelt gebil­ligt und was miß­bil­ligt wird, und welche Mei­n­un­gen und Ver­hal­tensweisen zunehmen und welche abnehmen.

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Aus­gabe:

  • 6., erweit­erte Neuau­flage, München: Lan­gen-Müller 2001.

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Lit­er­atur:

  • Thomas Roess­ing: Öffentliche Mei­n­ung. Die Erforschung der Schweige­s­pi­rale, Baden-Baden 2009.
  • Jür­gen Wilke (Hrsg.): Öffentliche Mei­n­ung. The­o­rie, Meth­o­d­en, Befunde. Beiträge zu Ehren von Elis­a­beth Noelle-Neu­mann, Freiburg/München 1992.