Noelle-Neumann, Elisabeth — Meinungsforscherin, 1916–2010

Elis­a­beth Noelle, geboren am 19. Dezem­ber 1916, stammte aus gut­bürg­er­lichen Ver­hält­nis­sen, zeigte früh außergewöhn­liche Intel­li­genz und außergewöhn­lichen Eigen­willen. Sie besuchte in ihrer Heimat­stadt Berlin die Schule, wurde aber schließlich wegen ihrer Eska­paden in die nieder­säch­sis­che Prov­inz geschickt und machte in Göt­tin­gen ihr Abitur. Das Studi­um der Geschichte, Philoso­phie, Zeitungswis­senschaft und Amerikanis­tik nahm sie allerd­ings in Berlin auf, hörte einige Semes­ter in Königs­berg und ging dann als Stipen­di­atin in die Vere­inigten Staat­en. An der Uni­ver­sität Mis­souri lernte sie zuerst die neuen Meth­o­d­en der Demoskopie ken­nen. 1940 wurde sie mit ein­er Arbeit zu diesem The­ma bei Emil Dov­i­fat, dem Nestor der deutschen Zeitungswis­senschaft, pro­moviert. Zu dem Zeit­punkt hat­te sie längst als Jour­nal­istin zu arbeit­en begonnen, absolvierte ein Volon­tari­at bei der Deutschen All­ge­meinen Zeitung und trat dann eine Stelle bei der Wochen­zeitung Das Reich an.

Die Verbindung zu Goebbels’ Pres­tige­blatt war kein Zufall. Im Pro­pa­gan­damin­is­teri­um hat­te man die außergewöhn­lich begabte junge Frau längst bemerkt, und man inter­essierte sich auch für ihr eigentlich­es Arbeits­ge­bi­et, die Demoskopie. Elis­a­beth Noelles Koop­er­a­tions­bere­itschaft hat­te dabei nichts mit ide­ol­o­gis­ch­er Affinität zu tun. Aber sie sah Kar­ri­erechan­cen und die Möglichkeit, mächtige Alli­ierte für den Ver­such zu gewin­nen, eine in Deutsch­land noch unbekan­nte Diszi­plin zu etablieren. Was genau an poli­tis­chen und per­sön­lichen Grün­den eine engere Zusam­me­nar­beit zulet­zt ver­hin­dert hat, ist bis heute nicht überzeu­gend gek­lärt und wird wohl erst mit Hil­fe ein­er wis­senschaftlichen Biogra­phie zu erhellen sein. Fest ste­ht jeden­falls, daß sie rel­a­tiv rasch Das Reich wieder ver­ließ, zur hal­bop­po­si­tionellen Frank­furter Zeitung wech­selte und eine ihr ange­botene Stelle im Pro­pa­gan­damin­is­teri­um ablehnte.

Nach dem Zusam­men­bruch heiratete Elis­a­beth Noelle den Jour­nal­is­ten Peter Neu­mann und führte zukün­ftig den Namen Noelle-Neu­mann. Zusam­men baut­en die bei­den das Insti­tut für Demoskopie Allens­bach (IfD) auf und macht­en es zur führen­den Ein­rich­tung dieser Art in der Bun­desre­pub­lik. Die vom IfD auf der Basis repräsen­ta­tiv­er Umfra­gen her­aus­gegebe­nen Jahrbüch­er bilden auch eine unverzicht­bare Quelle für die Analyse des großen Men­tal­itätswan­dels, der sich in der Nachkriegszeit vol­l­zog. Seine Aufträge erhielt das Insti­tut zuerst von Stellen der Besatzungsmächte, dann aus Kreisen der Wirtschaft und von staatlichen Insti­tu­tio­nen der Bun­desre­pub­lik.

Peter Neu­manns Engage­ment in der CDU führte dabei rasch zu dem Ver­dacht, hier werde parteilich gear­beit­et und nur solche Ergeb­nisse veröf­fentlicht, die den Auf­tragge­bern paßten. Allerd­ings ist festzuhal­ten, daß nicht nur die Wahl­prog­nosen des IfD außeror­dentlich sich­er waren, son­dern auch, daß die Erhe­bun­gen zu poli­tis­chen Ein­stel­lun­gen oder zum „Werte­wan­del“ den Tat­sachen bess­er entsprachen, als die Behaup­tun­gen sein­er Geg­n­er. Da die Kri­tik­er im all­ge­meinen die „veröf­fentlichte Mei­n­ung“ repräsen­tierten, wur­den sie nur ungern daran erin­nert, wie die „öffentliche Mei­n­ung“ die Dinge tat­säch­lich ein­schätzte. Elis­a­beth Noelle hat diese Diskrepanz und die Möglichkeit­en der Manip­u­la­tion durch Massen­me­di­en und Mul­ti­p­lika­toren in ihrem Best­seller Die Schweige­s­pi­rale (zuerst 1980) eben­so ein­leuch­t­end wie ken­nt­nis­re­ich analysiert. Das Buch galt der Linken als eine der kon­ser­v­a­tiv­en Kampf­schriften und als wis­senschaftlich belan­g­los. Die „Pythia vom Bodensee“ hat solche Feind­seligkeit mit einem Achselzuck­en quit­tiert. Trotz ihrer deut­lichen und häu­fig über­raschend poli­tis­chen Kom­mentare, die etwa in den Monats­bericht­en des IfD für die Frank­furter All­ge­meine Zeitung zum Aus­druck kamen, darf man nicht verken­nen, wie sehr Elis­a­beth Noelle die Nähe der Macht suchte und sich unbe­d­ingt in dieser Nähe zu hal­ten suchte. Über ihren Ein­fluß auf Hel­mut Kohl gab es zahllose Mut­maßun­gen.

Bei­de hat­ten schon seit Anfang der sechziger Jahre zusam­mengear­beit­et, und fest ste­ht jeden­falls, daß sie das ihre dazu getan hat, die erste Wende (von 1982) vorzu­bere­it­en und ihre Erfolge her­auszustellen, der zweit­en Wende (von 1989) eine angemessene – von den Mei­n­ungs­mach­ern keineswegs gewün­schte – Beurteilung zu ver­schaf­fen und gle­ichzeit­ig alles Auf­begehren von rechts niederzuhal­ten. Verblüf­fend war für viele ihrer Anhänger, daß sie zugab, die Prog­nosen für die Repub­likan­er vor deren erstem Einzug in den baden-würt­tem­ber­gis­chen Land­tag 1992 klein­gerech­net zu haben, um zögernde Wäh­ler (die ein Scheit­ern an der Fünf-Prozent-Klausel und damit ein „Ver­schenken“ der eige­nen Stimme fürchteten) abzuschreck­en. Ihre Recht­fer­ti­gung für diese wis­senschaftliche wie moralis­che Unsauberkeit hätte wohl gelautet, daß die Kon­ser­v­a­tiv­en nicht zu ungeduldig sein dürften; die Zeit arbeite für sie, äußerte sie ein­mal in einem Inter­view.

Elis­a­beth Noelle-Neu­mann ver­starb am 25. März 2010 in Allens­bach.

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Zitat:

Man hat also in der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land nicht mehr die Tren­nungslin­ie gezo­gen zwis­chen demokratis­chen und total­itären Sys­te­men, son­dern zwis­chen linken und recht­en, wobei die recht­en als böse gal­ten und die linken als gut. Und damit ist unser gesamtes poli­tis­ches Koor­di­naten­sys­tem für Jahre und Jahrzehnte ver­schoben wor­den.

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Schriften: 

  • Öffentlichkeit als Bedro­hung. Beiträge zur empirischen Kom­mu­nika­tions­forschung, Freiburg i. Br./ München 1977
  • Die Schweige­s­pi­rale, Stuttgart 1980 (zulet­zt als 6. Auflage unter dem Titel: Die Schweige­s­pi­rale. Öffentliche Mei­n­ung – unsere soziale Haut, München 2001)
  • Die Erin­nerun­gen, München 2006

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Lit­er­atur:

  • Hans Math­ias Kep­plinger: Nachruf auf Elis­a­beth Noelle (19. Dezem­ber 1916 — 25. März 2010), in: Köl­ner Zeitschrift für Sozi­olo­gie 62 (2010), Heft 3