Dritter Weg

Drit­ter Weg ist ein Begriff, der erst nach dem Zweit­en Weltkrieg häu­figer Ver­wen­dung fand. Es han­delte sich dabei um eine Formel, die an die pop­uläre Idee eines »Mit­tel­wegs« zwis­chen West und Ost, Kap­i­tal­is­mus und Kom­mu­nis­mus, anknüpfte. Vor­for­men entwick­el­ten sich aber schon seit dem 19. Jahrhun­dert in Reak­tion auf die Krise der Mas­sen­ge­sellschaft. Die Wahrnehmung, daß das Links-Rechts-Schema, das sich seit der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion gebildet hat­te, außer­stande war, Lösun­gen anzu­bi­eten, führte zur Entste­hung von Ide­olo­gien, die die Gegen­sätze in ein­er neuen Syn­these aufheben soll­ten. Im Vorder­grund stand dabei das Konzept eines anti­ma­te­ri­al­is­tis­chen »nationalen Sozial­is­mus«.

Wegen der beson­deren Lage Deutsch­lands im Ersten Weltkrieg und nach der Nieder­lage ent­stand hier ein beson­ders frucht­bar­er Nährbo­den für Entwürfe eines Drit­ten Weges. Vor­läufer des Begriffs find­en sich vor allem im Umfeld der Kon­ser­v­a­tiv­en Rev­o­lu­tion (»dritte Partei«, »Drittes Reich«, »Dritte Front«), aber auch auf seit­en der undog­ma­tis­chen Linken. Ihre eigentliche Plau­si­bil­ität erhielt die Forderung nach einem Drit­ten Weg allerd­ings erst durch die Zweit­eilung der Welt mit Beginn des Kalten Kriegs.

Entschei­dend waren dafür neu­tral­is­tis­che Pläne zur Schaf­fung eines – wiedervere­inigten – Deutsch­lands zwis­chen den Blöck­en, kom­biniert mit älteren weltan­schaulichen Tra­di­tio­nen, die Deutsch­land im geo­graphis­chen Zen­trum Europas auch die Auf­gabe ein­er geisti­gen Ver­mit­tlung zuord­neten. Bis zum Ende der 1950er Jahre kon­nten der­ar­tige Vorstel­lun­gen in die etablierten Parteien hinein­wirken (Jakob Kaiser, Thomas Dehler, Gus­tav Heine­mann), aber bei zunehmender Sta­bil­isierung der Bun­desre­pub­lik geri­eten sie ins Abseits.

Das gilt noch stärk­er für alle Pro­gramme, die nicht nur außen‑, son­dern auch innen­poli­tisch für einen Drit­ten Weg plädierten, etwa im Sinn ein­er »aris­tokratis­chen Demokratie«, ein­er ständis­chen Neuord­nung oder eines genossen­schaftlichen Sozial­is­mus. Was hier aus dem Tra­di­tions­be­stand der Kon­ser­v­a­tiv­en Rev­o­lu­tion nach­wirk­te, war bald vergessen, und seit den 1960er Jahren wurde der Begriff Drit­ter Weg eigentlich nur noch von ein­er heimat­losen Linken benutzt. Sie beze­ich­net damit einen mod­er­at­en Sozial­is­mus, der gle­ich weit von der west­lichen Mark­twirtschaft und der östlichen Plan­wirtschaft ent­fer­nt sein sollte.

Im Vor­feld der Stu­den­ten­re­volte mehrten sich dann Forderun­gen, den Sozial­is­mus der Entwick­lungslän­der als Mod­ell zu betra­cht­en, weit­er galt der gescheit­erte »Sozial­is­mus mit men­schlichem Antlitz« des Prager Früh­lings als Vor­bild. Ver­suche, für solche Vari­anten des Drit­ten Weges eine Anhänger­schaft zu sam­meln, scheit­erten aber regelmäßig. Die Befür­worter fan­den zwar Zus­pruch aus Kreisen der Achtund­sechziger, der Alter­na­tivbe­we­gun­gen und der linken Intel­li­genz über­haupt, aber keine Res­o­nanz in der Masse der Bevölkerung.

Das hing auch mit der Ablehnung durch die klas­sis­che Linke zusam­men, der ortho­dox­en kom­mu­nis­tis­chen Parteien in west­lichen Län­dern (vor allem Frankre­ich und Ital­ien, später Spanien und Por­tu­gal), die entwed­er streng an Moskau ori­en­tiert waren oder einen Anpas­sungskurs ver­fol­gten (»Eurokom­mu­nis­mus«), und der Sozialdemokrat­en, die einen Teil ihres ide­ol­o­gis­chen Bal­lasts abge­wor­fen hat­ten und erfol­gre­ich linke Gesellschaft­spoli­tik mit Ver­mehrung der Kon­sum­chan­cen kom­binierten.

Erst die Umwelt- und Friedens­be­we­gung der 1980er Jahre gab der Idee noch ein­mal Auftrieb (»ökol­o­gis­ch­er Sozial­is­mus« und »Europäisierung Europas«), aber das waren flüchtige Erschei­n­un­gen. Vieles sprach dafür, daß das Konzept nach dem Zusam­men­bruch des Ost­blocks ganz ver­schwinden würde. Über­raschen­der­weise hat aber die ver­meintliche Alter­na­tivlosigkeit des west­lichen Mod­ells die Formel nach 1989 in die Poli­tik zurück­ge­holt – mit der beze­ich­nen­den Abwand­lung dahin, daß The­o­retik­er wie Antho­ny Gid­dens und Prak­tik­er wie Tony Blair oder Ger­hard Schröder keinen »Sozial­is­mus«, son­dern einen »Kap­i­tal­is­mus mit men­schlichem Antlitz« propagierten.

Der Begriff Drit­ter Weg hat hier seinen ursprünglichen Bedeu­tungs­ge­halt weit­ge­hend ver­loren. Allerd­ings darf nicht vergessen wer­den, daß es neben der linken seit den 1970er Jahren auch eine rechte Rezep­tion der Idee gab, wen­ngle­ich ohne öffentliche Anerken­nung. Die ging ein­er­seits von nation­al­rev­o­lu­tionären Grup­pierun­gen aus, die sich an Ideen eines »sozialen Faschis­mus« ori­en­tierten, (Third Posi­tion in Großbri­tan­nien, Troisiéme Voie in Frankre­ich), ander­er­seits spiel­ten umfassendere Entwürfe der franzö­sis­chen »Neuen Recht­en« eine Rolle, die nach außen eine selb­ständi­ge Stel­lung Europas gegen Ameri­ka und Asien, nach innen eine Sozial- und Wirtschaft­sor­d­nung forderte, die sich von den »ökon­o­mistis­chen« Anschau­un­gen des Lib­er­al­is­mus wie des Kom­mu­nis­mus abwandte und eine Poli­tik »jen­seits von links und rechts« ermöglichen sollte.

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Zitate:

Die Suche nach einem Drit­ten Weg zwis­chen Lib­er­al­is­mus und Marx­is­mus gehörte seit der zweit­en Hälfte des 19. Jahrhun­derts zur großen Revolte gegen das mod­ernistis­che Erbe der Aufk­lär­er. Damals nahm die Idee Gestalt an, daß der Lib­er­al­is­mus wie der marx­is­tis­che Sozial­is­mus nichts anderes seien als zwei Facetten des­sel­ben Übels, der­sel­ben Nei­gung zur Dekadenz. … In diesem Zusam­men­hang wurde der Mythos des Drit­ten Weges ein entschei­den­des Ele­ment für die Bil­dung ein­er alter­na­tiv­en Kul­tur, jen­seits von lib­eraler Demokratie und Sozial­is­mus.

Zeev Stern­hell

Mir scheint für Deutsch­land die große Auf­gabe gegeben, im Ring der europäis­chen Natio­nen die Syn­these zwis­chen östlichen und west­lichen Ideen zu find­en. Wir haben Brükke zu sein zwis­chen West und Ost, zugle­ich aber suchen wir unseren eige­nen Weg zu gehen zu neuer sozialer Gestal­tung.
Jakob Kaiser

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Lit­er­atur:

  • Alexan­der Gal­lus; Eck­hard Jesse: Was sind Dritte Wege?, in: Aus Poli­tik und Zeit­geschichte B 16–17/2001
  • Antho­ny Gid­dens: Der dritte Weg, Frank­furt a.M. 1999
  • Actes du XVI­Ie col­loque nation­al du G.R.E.C.E – La troisième voie, Paris 1984;
  • Rain­er Dohse: Der Dritte Weg, Ham­burg 1974
  • Hel­mut L. Müller: Der »dritte Weg« als deutsche Gesellschaft­sidee, in: Aus Poli­tik und Zeit­geschichte B 27/1984
  • Zeev Stern­hell: La troisième voie fas­ciste ou la recherche d’€™une cul­ture poli­tique alter­na­tive, in: Gilbert Mer­lio (Hrsg.): Ni gauche, ni droite: Les chas­sés-croisés idéologiques des intel­lectuels fran­cais et alle­mands dans l’€™entre-deux-guerres, Bor­deaux 1991, S. 17–29