Ehre

Ehre hat einen inneren und einen äußeren Aspekt. Der innere wird dadurch bes­timmt, daß das Indi­vidu­um um seinen Wert weiß. Er ist im Grunde nicht ver­let­zbar. Der äußere hängt mit der Anerken­nung und Wertschätzung des Indi­vidu­ums in der Gemein­schaft zusam­men, er ist äußerst empfind­lich. Der einzelne hat deshalb eine Vorstel­lung davon, was sich mit sein­er Ehre verträgt und ist gle­ichzeit­ig davon abhängig, daß man ihm Ehre erweist. Nur infolge mas­siv­er seel­is­ch­er Störung kann die eigene Ehrlosigkeit vorgestellt wer­den, während Ehrver­lust in der Öffentlichkeit ganz ver­schiedene Gründe hat.

Für diesen Zusam­men­hang spielt das kul­turelle Gesamt­sys­tem eine wichtige Rolle. Geläu­fig ist die Unter­schei­dung von »Scham- und Schuld­kul­turen« (Ruth Bene­dict). Die Schamkul­tur ist die ältere und all­ge­meinere Form. In ihr wirkt der einzelne so stark mit der Gruppe ver­bun­den, daß der äußere Aspekt der Ehre ganz ins Zen­trum tritt. Ehre wird in erster Lin­ie gegeben, die ehren­hafte Stel­lung ist abhängig von der Bere­itschaft der Gruppe, Ehre zu erweisen. Thorstein Veblen hat vielle­icht nicht allzusehr über­trieben, wenn er meinte: »Bevor die Entwick­lung des Begriffs und der weit­er daran geknüpften Vorstel­lun­gen die ein­fache Bedeu­tung ver­schleierte, scheint der prim­i­tive Bar­bar unter “ehren­voll” nichts anderes ver­standen zu haben als über­legene Kraft.«

Wenn man den Begriff »Kraft« durch »Macht« erset­zt und die Inter­pre­ta­tion über den Aspekt der rein kör­per­lichen Potenz erweit­ert, kommt man dem Ursprung des Ehrbe­griffs nahe. Denn in allen frühen Gesellschaften war Ehre verknüpft mit Alter, Geschlecht oder sozialem Rang: Alten kommt mehr Eehre zu als Jun­gen, Män­nern mehr als Frauen, Müt­tern mehr als Kinder­losen, Priestern mehr als Laien und so weit­er. Aber es spiel­ten auch indi­vidu­elle Leis­tun­gen eine Rolle – bei Krieg oder Jagd vor allem –, und der öffentlichen Zuweisung ein­er beson­deren Ehre wurde große Bedeu­tung zugeschrieben, nicht zulet­zt indem man sie sym­bol­isch aus­drück­te (Ehren­ze­ichen), Ehrver­lust war eine Katas­tro­phe, weil sie im Grunde den sozialen Tod nach sich zog.

Es beste­ht hier ein Zusam­men­hang mit natür­lichen Vor­for­men des men­schlichen Gemein­schaft­slebens, aber aus deren Charak­ter ist die Ehrvorstel­lung selb­stver­ständlich nicht ganz abzuleit­en. Das wird noch deut­lich­er im Fall der Schuld­kul­tur. Es han­delt sich dabei um die sel­tenere Vari­ante. Sie hat unter dem Ein­fluß des Chris­ten­tums ihre klarste Aus­prä­gung in Europa (Abend­land) erhal­ten. Grund dafür war zum einen die religiös motivierte Vorstel­lung, daß jedem Men­schen mit sein­er unsterblichen Seele eine Ehre zukomme, die im Grunde nur durch sünd­haftes Han­deln beschädigt wer­den könne, aber nicht durch irgend etwas, das dem einzel­nen in der Welt zustößt.

Die Macht der tra­di­tionellen Schamkul­tur war dadurch aber nur kor­rigiert, nicht beseit­igt, was auch mit der Über­tra­gung des Ehrbe­griffs auf das Kollek­tiv zu tun hat, der für alle poli­tis­che Organ­i­sa­tion unab­d­ing­bar ist. Bis ins 20. Jahrhun­dert spielte deshalb auch in Europa die Wahrung der äußeren Ehre für das Indi­vidu­um eine entschei­dende Rolle. Gravierende Verän­derun­gen auf diesem Sek­tor sind zus­tande gekom­men durch die egal­isierende Ten­denz der mod­er­nen Gesellschaft, die dem ehren­stolzen Adel (Aris­tokratie) seine Funk­tion nahm, und die Vari­anten ein­er Psy­cholo­gie, die die Aus­forschung des Innen­lebens mit der Absicht betrieb, auch so einen Begriff wie den der Ehre aufzulösen. Mon­tesquieu hat schon darauf hingewiesen, daß die Ehre für den Bestand jed­er dif­feren­zierten Gesellschaft­sor­d­nung von Bedeu­tung ist, und Sorel ver­mutete, daß die europäis­che Dekadenz wesentlich auf ein Schwinden des Ehrge­fühls zurück­zuführen sei.

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Zitate:

Welch­es sind die höch­sten Güter des ger­man­is­chen Mannes? Auf diese Frage lautet die Antwort: Mut und Treue und Ehre.
Jan de Vries

Der Grund­be­griff aller lebendi­gen Sitte ist die Ehre. Alles andere, Treue, Demut, Tapfer­keit, Rit­ter­lichkeit, Selb­st­be­herrschung, Entschlossen­heit liegen darin. Und Ehre ist Sache des Blutes, nicht des Ver­standes. Man über­legt nicht – son­st ist man schon ehr­los.
Oswald Spen­gler

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Lit­er­atur:

  • Hans von Hentig: Die Besiegten, München 1966.
  • Charles de Mon­tesquieu: Vom Geist der Geset­ze, zulet­zt Stuttgart 2006.
  • Thorstein Veblen: The­o­rie der feinen Leute, zulet­zt Frank­furt a. M. 2007.
  • Jan de Vries: Die geistige Welt der Ger­ma­nen, zulet­zt Darm­stadt 1964.