Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Staatsrechtler, 1930–2019

Als Pro­fes­sor für Öffentlich­es Recht in Biele­feld und Freiburg (Breis­gau) und als Bun­desver­fas­sungsrichter zählt Ernst-Wolf­gang Böck­en­förde zu den führen­den Intellek­tuellen der Bun­desre­pub­lik. Er, geboren am 19. Sep­tem­ber 1930 in Kas­sel, war prak­tizieren­der Katho­lik und Mit­glied der SPD. Seit seinem Studi­um der Rechtswis­senschaften gehörte er zu dem engeren Umfeld von Carl Schmitt, für dessen Rezep­tion in der Bun­desre­pub­lik er sich wirkungsvoll ein­set­zte.

Aus der Fam­i­lie eines west­fälis­chen katholis­chen Forst­beamten stam­mend, ver­lor Böck­en­förde als Schüler durch einen Straßen­bah­nun­fall einen Unter­schenkel. Er studierte seit 1950 Geschichte und Rechtswis­senschaften in Mün­ster, wo er ein­er katholis­chen Stu­den­ten­verbindung ange­hörte, und München. Dort gehörte Böck­en­förde zu den let­zten Schülern des lib­eralen katholis­chen His­torik­ers Franz Schn­abel und wurde bei diesem 1953 mit ein­er ver­fas­sung­shis­torischen Arbeit zum Dr. phil. pro­moviert. Bei dem Mün­ster­an­er Ver­wal­tungsrechtler Hans-Julius Wolff wurde er im gle­ichen Jahr mit ein­er Arbeit über »Gesetz und geset­zgebende Gewalt« zum Dr. iur. pro­moviert.

Während sein­er Assis­ten­ten­zeit in Mün­ster gehörte er dem Col­legium Philo­soph­icum des Philosophen Joachim Rit­ter an, über das auch Kon­takt zu Carl Schmitt hergestellt wurde. Wieder­holt besuchte Böck­en­förde Schmitt in Plet­ten­berg, der Kon­takt dauerte bis zu Schmitts Tod. Böck­en­fördes Brud­er, der Kanon­ist, Priester und Ratzinger-Schüler Wern­er Böck­en­förde, beerdigte 1985 Carl Schmitt in Plet­ten­berg.

1964 mit ein­er Arbeit über das Staat­sor­gan­i­sa­tion­srecht in Mün­ster habil­i­tiert, wurde Böck­en­förde im gle­ichen Jahr auf Betreiben von Ernst Forsthoff und Hans Schnei­der nach Hei­del­berg auf einen Lehrstuhl für Öffentlich­es Recht, Ver­fas­sungs- und Rechts­geschichte sowie Recht­sphiloso­phie berufen. 1969 fol­gte ein Ruf auf einen gle­ichen Lehrstuhl an der neuge­grün­de­ten Juris­tis­chen Fakultät der »Refor­mu­ni­ver­sität« Biele­feld, deren Konzep­tion von Hel­mut Schel­sky und Her­mann Lübbe stammte. Seit 1977 war Böck­en­förde Pro­fes­sor für Öffentlich­es Recht, Staats- und Ver­wal­tungsrecht und Recht­sphiloso­phie in Freiburg im Breis­gau, wo er über seine Emer­i­tierung 1990 hin­aus prä­gend lehrte.

In den sechziger Jahren wurde Böck­en­förde als katholis­ch­er Intellek­tueller bekan­nt, der die Rolle sein­er Kirche im Nation­al­sozial­is­mus kri­tisch hin­ter­fragte. Aus der Zeit bei Joachim Rit­ter bestanden Kon­tak­te zu kon­ser­v­a­tiv­en katholis­chen Intellek­tuellen wie Robert Spae­mann. In einem Ebracher Feriensem­i­nar von Ernst Forsthoff for­mulierte Böck­en­förde im Okto­ber 1964 in einem Vor­trag, der 1967 in der Forsthoff-Festschrift abge­druckt wurde, erst­mals sein berühmtes »Böck­en­förde-Dik­tum« von den Voraus­set­zun­gen des säku­laren Staates. Auf Vorschlag der SPD wurde der Sozialdemokrat Böck­en­förde 1983 zum Bun­desver­fas­sungsrichter gewählt (bis 1996); es han­delte sich um den ersten Bun­desver­fas­sungsrichter (»Nachkriegss­chüler«) aus dem engeren Umfeld von Carl Schmitt.

Böck­en­förde set­zte sich früh für eine »demokratis­che« Rezep­tion Carl Schmitts inner­halb der Recht­sor­d­nung des Grundge­set­zes ein. Er gehörte 1962 mit Roman Schnur zu den Begrün­dern der Zeitschrift Der Staat, die ein kon­ser­v­a­tives Gegengewicht zu dem Archiv des öffentlichen Rechts bilden sollte und von Anfang an auch als ein Forum für Carl Schmitt gedacht war. Zu Beginn sein­er Vor­lesungstätigkeit in Freiburg hielt Böck­en­förde 1978 eine Carl Schmitt gewid­mete Rede über den »ver­drängten Aus­nah­mezu­s­tand«. Bei dem von Hel­mut Quar­itsch ver­anstal­teten ersten wis­senschaftlichen Sym­po­sion zu Carl Schmitt, 1986 in Spey­er, hielt Böck­en­förde das Refer­at »Der Begriff des Poli­tis­chen als Schlüs­sel zum staat­srechtlichen Werk Carl Schmitts«. Auch in Inter­views und Zeitungsar­tikeln nimmt Böck­en­förde immer wieder zu recht­spoli­tis­chen und gesellschaftlichen Fra­gen Stel­lung, in den let­zten Jahren etwa auch zum (von ihm abgelehn­ten) möglichen EU-Beitritt der Türkei.

Bück­en­förde starb am 24.Februar 2019 in Au (Breis­gau).

– — –

Zitat:

Der frei­heitliche, säku­lar­isierte Staat lebt von Voraus­set­zun­gen, die er selb­st nicht garantieren kann. Das ist das große Wag­nis, das er, um der Frei­heit willen, einge­gan­gen ist.

– — –

Schriften:

  • Die Organ­i­sa­tion­s­ge­walt im Bere­ich der Regierung. Eine Unter­suchung zum Staat­srecht der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land, Berlin 1964
  • Staat, Gesellschaft, Frei­heit. Stu­di­en zur Staat­s­the­o­rie und zum Ver­fas­sungsrecht, Frank­furt a. M. 1976
  • Recht, Staat, Frei­heit. Stu­di­en zur Recht­sphiloso­phie, Staat­s­the­o­rie und Ver­fas­sungs­geschichte. Frank­furt a. M. 1991
  • Staat, Ver­fas­sung, Demokratie. Stu­di­en zur Ver­fas­sungs­the­o­rie und zum Ver­fas­sungsrecht. Frank­furt a. M. 1991
  • Staat, Nation, Europa. Stu­di­en zur Staat­slehre, Ver­fas­sungs­the­o­rie und Recht­sphiloso­phie. Frank­furt a. M. 1999
  • Der säku­lar­isierte Staat. Sein Charak­ter, seine Recht­fer­ti­gung und seine Prob­leme im 21. Jahrhun­dert, München 2007

– — –

Lit­er­atur:

  • Ernst-Wolf­gang Böckenförde/Dieter Gosewinkel: Wis­senschaft, Poli­tik, Ver­fas­sungs­gericht. Auf­sätze von Ernst-Wolf­gang Böck­en­förde. Biographis­ches Inter­view von Dieter Gosewinkel, Berlin 2011
  • Frieder Gün­ther: Denken vom Staat her. Die bun­des­deutsche Staat­srecht­slehre zwis­chen Dezi­sion und Inte­gra­tion 1949–1970, München 2004
  • Rein­hard Mehring: Carl Schmitt. Auf­stieg und Fall. Eine Biogra­phie, München 2009