Erziehung

Erziehung geht als Begriff auf ein althochdeutsches Verb zurück, das soviel wie »her­ausziehen« oder »her­aufziehen« bedeutete; der ursprüngliche Wortsinn hat sich noch beim »Ziehen« von Pflanzen erhal­ten, die eines gewis­sen Zwangs bedür­fen, um nicht am Boden zu kriechen, son­dern mit der Rankhil­fe nach oben zu wach­sen.

Grund­sät­zlich ist Erziehung von »Bil­dung« zu unter­schei­den. Bil­dung set­zt immer voraus, daß im »päd­a­gogis­chen Bezug« (Her­man Nohl) dem zu Erziehen­den die Möglichkeit der Selb­stent­fal­tung eröffnet wird; ein denkbar­er Ursprung des Wortes »Bil­dung« liegt in der Rede Meis­ter Eck­harts darüber, das Bild Gottes im Men­schen nachzuschaf­fen. Ein Bil­dungskonzept set­zt jeden­falls voraus, daß es im Men­schen einen Per­son­kern gibt, der unver­lier­bar ist, aber der Ent­fal­tung bedarf; Bil­dung ist insofern ein Prozeß, der den Men­schen zu ein­er Ver­vol­lkomm­nung führt, die von ihm selb­st gewollt sein muß und von außen gefördert wer­den kann, wobei die Förderung auch in ein­er Hem­mung liegen darf; ein Prob­lem, das wieder auf die Erziehung ver­weist.

Erziehung set­zt anders als »Bil­dung« den Akzent auf die Tätigkeit des Erziehen­den, auf die von ihm ergrif­f­e­nen Maß­nah­men, um den Men­schen zu for­men. Dabei liegt es in der Natur der Sache, daß solche Erziehung niemals sich­er sein kann, ihre Zwecke zu erre­ichen. Selb­st wenn dem Erzieher alle Möglichkeit­en der Ein­fluß­nahme offen­stün­den, bliebe nicht nur die Frage, ob eine der­ar­tige Erziehung wün­schenswert sei, es bliebe auch eine Menge an Unwäg­barkeit­en im Hin­blick auf das Ver­hal­ten des Zöglings.

Ein wichtiger Grund für die Unkalkulier­barkeit des Erziehung­sprozess­es liegt in der wach­senden Selb­ständigkeit des Zöglings, eine andere in der Macht der »heim­lichen Erzieher«. Das ist ein Begriff, der ursprünglich aus der Gesellschaft­skri­tik der Neuen Linken stammt, aber seinen guten Sinn hat. Denn er beze­ich­net tre­f­fend jene Vielzahl von Ein­fluß­größen, die die Vorstel­lun­gen und das Ver­hal­ten des Men­schen vom Kindes- bis zum Greisenal­ter bee­in­flussen. Jede men­schliche Gemein­schaft wirkt über diese heim­lichen Erzieher als solche erziehend auf ihre Mit­glieder, und: »Es kommt viel mehr auf indi­rek­te Erziehung an als auf direk­te.« (Wolf­gang Brezin­ka)

Das hat schon im antiken Griechen­land dazu geführt, daß man, als ein bewußtes Erziehungskonzept und ein entsprechen­des Erziehungside­al ent­wor­fen wur­den, dieser Wirkung steuern wollte. Denn Tugend oder Tugend­losigkeit im pri­vat­en wie im öffentlichen Leben müssen ger­ade auf die Her­anwach­senden beein­druck­end wirken. Die Anerken­nung dieses Sachver­halts beze­ich­net die Gren­ze jed­er wis­senschaftlichen Erziehungslehre, da die Menge der Sit­u­a­tio­nen unab­se­hbar ist, auf die man in der Erziehung stößt. Dem durch die Auf­stel­lung von fes­ten Regeln begeg­nen zu wollen, ist per se aus­sicht­s­los.

Alle kon­ser­v­a­tiv­en Erziehungskonzepte set­zen deshalb voraus, daß Erziehung in erster Lin­ie auf Erfahrung grün­det, und zu den wichtig­sten Erfahrun­gen in der Erziehung gehört der prob­lema­tis­che Charak­ter des Men­schen (Men­schen­bild). Das bedeutet nun ger­ade nicht, die Erziehbarkeit als solche in Frage zu stellen, aber ihre Gren­zen wer­den deut­lich benan­nt. Das heißt, Erziehung sollte beschränkt wer­den auf die Möglichkeit, den einzel­nen durch For­mung dahin zu brin­gen, daß er seinen eigentlichen Anla­gen entsprechen kann und den Erfordernissen des Gemein­schaft­slebens genügt. Damit erk­lärt sich automa­tisch die scharfe Zurück­weisung jed­er »anti­au­toritären Erziehung«, über­haupt aller Konzepte aus dem Reper­toire der Linken, die Erziehung als Möglichkeit betra­cht­en, einen »neuen Men­schen« zu schaf­fen oder sog­ar eine utopis­che Ord­nung vor­wegzunehmen. Der­ar­tige Konzepte beruhen immer auf der ratio­nal­is­tis­chen Annahme, daß es möglich sei, in der Erziehung alle späteren Lebenssi­t­u­a­tio­nen vor­wegzunehmen und zu bewälti­gen, so daß die Gesellschaft mit­tels Erziehung in einen Zus­tand inner­weltlich­er Erlö­sung über­führt wer­den kann.

Kon­ser­v­a­tive sehen in der Erziehung beschei­den­er die Möglichkeit, dem Zögling »zur Dur­chord­nung des eige­nen Erleb­nis­stroms« (Friedrich Ten­bruck) zu ver­helfen und die Kon­ti­nu­ität der kul­turellen For­men sicherzustellen. Das erk­lärt weit­er den Wert, den man hier der insti­tu­tionellen Ord­nung von Erziehung beim­ißt, die allein sich­er­stellen kann, daß die Über­liefer­ung bewahrt bleibt. Der Kern solch­er insti­tu­tionellen Ord­nung ist aber das Ver­hält­nis von Erzieher und zu Erziehen­dem; dieses Ver­hält­nis ist im denkbarsten Sinn umfassend und durch den Hin­weis auf den notwendi­gen Vor­bild­charak­ter des Erziehers nur unzure­ichend erfaßt.

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Zitate:

Man kön­nte erzo­gene Kinder gebären, wenn die Eltern erzo­gen wären.
Johann Wolf­gang von Goethe

Ja, dahin kommt es und zu ähn­lichen kleinen Unge­hörigkeit­en. Der Lehrer fürchtet… die Schüler und schme­ichelt ihnen; die Schüler acht­en Lehrer und Erzieher ger­ing. Über­haupt, die Jün­geren stellen sich den Älteren gle­ich und treten gegen sie auf, in Wort und in Tat. Die Greise set­zen sich zu den Jun­gen und sind fre­undlich und gefäl­lig. Sie richt­en sich nach ihnen, damit man sie ja nicht für unliebenswürdig und her­risch hält.
Pla­ton

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Lit­er­atur:

  • Wolf­gang Brezin­ka: Die Päd­a­gogik der Neuen Linken [1972], zulet­zt München 1981.
  • Wolf­gang Brezin­ka: Erziehung in ein­er wer­tun­sicheren Gesellschaft [1985], zulet­zt München 1993.
  • Bern­hard Bueb: Lob der Diszi­plin, München 2006.
  • Josef Kraus: Spaßpäd­a­gogik, München 1998.