Friedrich Tenbruck wurde am 22. September 1919 in Essen geboren. Hingabe an die wissenschaftliche Arbeit in Gestalt der Kultursoziologie, um deren Potenzen und Überdehnungen wissend, ihre Ergebnisse und Grenzen verantwortend, weder im akademischen Elfenbeinturm noch in auffälligem Politengagement wirkend — so läßt sich die Lebensleistung Tenbrucks umreißen.
Sein Ausgangspunkt war die Philosophie (1944 Dissertation über Kant in Marburg, danach Assistentenstellen). Ein Aufenthalt in den USA als Assistent Professor 1957–1962 brachte ihn mit sozialwissenschaftlichen Denk- und Verfahrensweisen in Kontakt. In Freiburg habilitierte er sich dann 1962 — also erst mit über vierzig Jahren — mit seiner Studie „Geschichte und Gesellschaft“ für Soziologie, die bereits in nuce die Grundzüge seiner Auffassung enthält: Die Person steht im Schnittpunkt von Geschichte, Gesellschaft und Kultur, der Mensch ist ein Kulturwesen, dessen Handeln stets in Sinn- und Bedeutungszusammenhänge steht und das nie nur durch soziale Lagen determiniert und verstehbar ist. Damit wurde aus der soziologischen Tradition fast unvermeidlich Max Weber zum großen Vorbild Tenbrucks.
1963 erhielt Tenbruck einen Ruf an die Universität Frankfurt, 1967 an die Universität Tübingen, an der er bis zur Emeritierung lehrte. Dort kam es alsbald zum Zusammenprall mit der Studentenrevolte, der ihn zum einen zum Mitbegründer des „Bundes Freiheit der Wissenschaft“ werden ließ, andererseits zu einem entschiedenen Verfechter einer selbstbesonnenen Soziologie. Den ausdrücklichen Schritt zum Anti-Soziologen (wie zur gleichen Zeit Helmut Schelsky) wollte er nicht vollziehen.
Tenbruck setzte seine kultursoziologische Perspektive bei der Analyse verschiedenster Phänomene der Moderne ein, als da waren Arbeit und Musik, Forschungsmethoden und Geschichte, Medien und Religion, Gesellschaft und Kultur, Stadt- und Regionalforschung, öffentliche Planung und immer wieder die Wissenschaft und ihre Kulturbedeutung. Er kam dabei zu verblüffenden, scharfsinnigen und bis heute bedenkenswerten Ergebnissen. So erschien ihm etwa das Fernsehen als Teil eines globalen Kulturkampfes, welcher Lebensstil und welche Ideologie sich weltweit durchzusetzen vermag.
Er begriff die Pressefreiheit als erfolgreiche Institutionalisierung eines missionarischen Anspruches der Vernunft- und Wissenschaftsreligion des 18. und 19. Jahrhunderts und hielt den Gedanken der „Entwicklung“ der außereuropäischen Länder für ein Konstrukt der Unesco. Die Moderne insgesamt betrachtete er als eine gescheiterte säkulare Glaubensgeschichte. Er resümierte lapidar: „Die Idylle der Weltzivilisation, in der alle Kulturen brüderlich zusammenleben werden, ist die Ideologie von Intellektuellen, die glauben, aus der Geschichte aussteigen zu können.“
Innerfachlich entfernte sich Tenbruck mit solchen Aussagen im universitären Klima der siebziger und achtziger Jahre zunehmend vom Hauptstrom und blieb in der Resonanz auf seinen weiteren Schülerkreis beschränkt. Eine Publikation aus dem Jahre 2006 registriert ihn als „Außenseiter in der deutschen Soziologie“. Seine Fundamentalkritik an der zeitgenössischen Soziologie (die Marxismus, Positivismus und Funktionalismus gleichermaßen einschloß) stieß auf Ablehnung oder Zurückhaltung.
Nach Tenbruck nahm Soziologie die längst zerstörten Träume der Naturwissenschaften von der endgültigen Beherrschung aller menschlichen Probleme wieder auf und suchte sie im Humanbereich durch Legitimation eines Weltbildes zu verwirklichen, „in dem der Mensch zum totalen Gesellschaftswesen wird, das in seinem Handeln bloß von gesellschaftlichen Umständen getrieben und in seinem Sinnen bloß auf ebendiese Umstände gerichtet ist“. So sei eine gewaltige neue Deutungs- und Lebensmacht entstanden, vom Glauben an die Aufklärung und dem Prestige der Wissenschaften zehrend, ein „Mythos“ der Befreiung, der aber tatsächlich eine „von einer Expertokratie abhängige bürokratisierte Betreuungsgesellschaft“ aufbaue. Die heutige Soziologie stifte „eher Verwirrung als Aufklärung“.
Tenbruck starb am 9. Februar 1994 in Tübingen.
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Zitat:
An die Stelle der als gültig erlebten Werte hat die Wissenschaft die Schemen ihrer universalistischen Konstrukte gesetzt, die keinen Halt geben und zu missionarischen Wahrheiten auflaufen. Wenn das säkulare Experiment nicht in neue Staatsreligionen führen soll, dann muß vor allem auch die Wissenschaft die Grenzen ihres Universalismus entdecken und die verschüttete Logik menschlicher Erfahrung wieder sichtbar und verständlich machen.
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Schriften:
- Jugend und Gesellschaft. Soziologische Perspektiven, Freiburg i. Br. ²1965
- Zur Kritik der planenden Vernunft, Freiburg i. Br. 1972
- Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz 1984
- Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen 1989
- Geschichte und Gesellschaft, Berlin 1986
- Perspektiven der Kultursoziologie. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Christian Albrecht et al., Opladen 1996
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Literatur:
- Alois Hahn: Nekrolog, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie 46 (1994), Heft 2
- Harld Homann: Wiedergänger. Zur Aufklärung der Anti-Soziologie am Beispiel Friedrich Tenbrucks, in: Peter-Ulrich Merz-Benz / Gerhard Wagner (Hrsg.): Soziologie und Anti-Soziologie. Ein Diskurs und seine Rekonstruktion, Konstanz 2001