Europa

Europa ist im Unter­schied zu »Abend­land« kein präzis­er poli­tis­ch­er Begriff. Das hat seine Ursache darin, daß die pos­i­tive Beset­zung zu ein­er all­ge­meinen Bezug­nahme auf Europa geführt hat, die kaum genaue Zuord­nun­gen erlaubt. Allen diesen Auf­fas­sun­gen ist gemein­sam, daß sie eine Iden­tität Europas nicht auf die Zeit sein­er christlichen Prä­gung beschränkt sehen wollen, son­dern sowohl das vorchristliche – antike – wie auch das nachchristliche – aufgek­lärte – Europa zur Gel­tung brin­gen möcht­en.

Let­ztes Ziel entsprechen­der Bemühun­gen ist immer die Eini­gung Europas. Allerd­ings wirft die Ungek­lärtheit der geo­graphis­chen Gren­zen schon die ersten schw­er­wiegen­den Prob­leme auf. So erk­lärt sich das Gegeneinan­der von Klein-Europäern (West‑, Mit­tel- und Nord-Europa) und Großeu­ropäern (Klein-Europa, dazu noch Ost-Europa, eventuell unter Ein­beziehung der angren­zen­den Gebi­ete, selb­st dann, wenn diese eth­nisch, kul­turell und religiös so weit ent­fer­nt sind wie die Türkei).

Neben die Schwierigkeit, Europa über seine äußeren Kon­turen zu bes­tim­men, tritt dann die tra­di­tionelle Vielgestaltigkeit. Soweit man nicht ein­fach – wie das bis in die zweite Hälfte des let­zten Jahrhun­derts dur­chaus üblich war – vom »Kon­ti­nent des weißen Mannes« aus­ge­ht, son­dern eine kul­turelle Ein­heit pos­tuliert, muß schon entsch­ieden wer­den, ob man das Europäis­che entwed­er enger an die Merk­mal­srei­he Römisch-Katholisch, dann Römisch-Katholisch-Protes­tantisch bindet oder eine innere Ein­heit des west­lichen und des östlichen Chris­ten­tums pos­tuliert, die let­ztlich alle roman­is­chen, ger­man­is­chen, slaw­is­chen und baltischen Völk­er umfassen würde. Weit­er bedarf ein­er Klärung, wie es über­haupt zum »Europäis­chen Son­der­weg« (Rolf Peter Siefer­le) kom­men kon­nte – das heißt dem Über­gang von ein­er agrarischen Zivil­i­sa­tion zu ein­er mod­er­nen –, der Durch­set­zung des »faustis­chen Geistes« (Oswald Spen­gler) und der dadurch ein­geleit­eten »Europäisierung der Welt« (Hans Frey­er).

Während die meis­ten Anhänger des Europagedankens vor allem die frieden­s­tif­tende Funk­tion her­vorheben und auf die Erfahrung der mörderischen »Brud­erkriege« – von der Glaubenss­pal­tung bis zu den Weltkriegen – ver­weisen, hat sich daneben eine zweite Grup­pierung gebildet, die die ökonomis­chen Vorzüge ein­er engeren Verbindung inner­halb des europäis­chen Wirtschaft­sraums betont. Diese bei­den Flügel der Europabe­we­gung hat­ten nach 1945 den stärk­sten Ein­fluß auf die Entwick­lung hin zur »Europäis­chen Union«. Dabei trat­en ideelle Erwä­gun­gen fast ganz in den Hin­ter­grund, sieht man ein­mal von der antikom­mu­nis­tis­chen Frontstel­lung ab. Das erk­lärt sich auch daraus, daß jede Beto­nung ein­er europäis­chen Iden­tität als Gefährdung der transat­lantis­chen Bünd­nis­beziehun­gen ver­standen und solch­er »Gaullis­mus« etwa in West­deutsch­land mit Sorge gese­hen wurde. Später stand ein­er klar­eren Iden­titäts­bil­dung die Vorstel­lung ent­ge­gen, daß die Beto­nung des spez­i­fisch Europäis­chen »intol­er­ant« wirke, was mit dem lib­eralen Zeit­geist unvere­in­bar schien.

Solche Ängstlichkeit in der Beant­wor­tung entschei­den­der Fra­gen erk­lärt auch, warum das Prob­lem der inneren Ord­nung Europas kaum je wirk­lich zur Ken­nt­nis genom­men wurde. Zwar gibt es einen bre­it­en Kon­sens in bezug auf eine föderale Ord­nung, aber fak­tisch einen immer stärk­er wer­den­den bürokratis­chen Zen­tral­is­mus. Unklar ist weit­er, wie das Prinzip der Volkssou­veränität zum Aus­gle­ich gebracht wer­den kann mit Steuerung­sprozessen, die unkon­trol­liert und unkon­trol­lier­bar von­stat­ten gehen, und was eigentlich »Supra­na­tion­al­ität« im Poli­tis­chen bedeutet.

Nur Außen­seit­er haben es gewagt, der offiziellen Undeut­lichkeit die schär­fer geze­ich­nete Vorstel­lung von einem »europäis­chen Imperi­um« ent­ge­gen­zuset­zen, das in Anknüp­fung an das römis­che oder das mit­te­lal­ter­liche deutsche Reich, den Kon­ti­nent bis an die Gren­zen Ruß­lands zusam­men­fassen und so die Grund­lage ein­er neuen Groß­macht bilden kön­nte. Der­ar­tige Konzepte fan­den zwar nach dem Zusam­men­bruch des Ost­blocks eine größere Res­o­nanz, kon­nten aber bis dato keinen poli­tis­chen Ein­fluß im direk­ten Sinn ausüben.

Manch­mal ist hier eine Berührung mit »eura­sis­chen« Ide­olo­gien festzustellen, in denen die Auf­fas­sung vertreten wird, daß ein funk­tion­ieren­der impe­ri­aler Großraum unter heuti­gen Bedin­gun­gen nicht auf Europa beschränkt wer­den dürfe, son­dern das asi­atis­che Ruß­land mit umfassen müsse. Häu­fig verbinden sich der­ar­tige Anschau­un­gen mit der Hoff­nung auf eine kul­turelle und religiöse Regen­er­a­tion durch den »unver­braucht­en« slaw­is­chen Osten.

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Zitate:

Gewöh­nt sich der Europäer daran, daß er nicht gebi­etet, so wer­den anderthalb Gen­er­a­tio­nen genü­gen, damit der alte Kon­ti­nent und nach ihm die ganze Welt in sit­tliche Trägheit, geistige Unfrucht­barkeit und all­ge­meine Bar­barei versinken. Nur das Bewußt­sein zu führen und Ver­ant­wor­tung zu tra­gen, und die Zucht, die daraus entspringt, kön­nen die See­len des Abend­lan­des in Span­nung hal­ten.
José Orte­ga y Gas­set

Europa ist die Kul­tur. Es gibt zahlre­iche For­men von Kul­tur. Aber die europäis­che Kul­tur ist die einzige, die einen absoluten Wert und eine uni­ver­sale Bedeu­tung besitzt.
Gon­zague de Reynold

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Lit­er­atur:

  • Hans Frey­er: Welt­geschichte Europas [1948], zulet­zt Darm­stadt 1969.
  • Gerd-Klaus Kaltenbrun­ner: Europa, 3 Bde, Sig­marin­gen­dorf 1985–1987.
  • Gerd-Klaus Kaltenbrun­ner (Hrsg.): Europa – Welt­macht oder Kolonie?, Herder­bücherei Ini­tia­tive, Bd 25, Freiburg i. Br. 1978.
  • Denis de Rouge­mont (Hrsg.): Europa. Vom Mythos zur Wirk­lichkeit, München 1962.
  • Alfred Zänker: Epoche der Entschei­dun­gen, Asendorf 1992.
  • Rolf Peter Siefer­le: Der Europäis­che Son­der­weg. Ursachen und Fak­toren, der europäis­che Son­der­weg, Bd 1, Stuttgart 2000.
  • Leopold Ziegler: Der europäis­che Geist, Darm­stadt 1929.