Uhle-Wettler, Franz, Militärhistoriker, 1927–2018

Franz Uhle-Wet­tler, am 30. Okto­ber 1927 in Eisleben geboren, zählt zu jenen sel­ten gewor­de­nen “aus­ge­sucht­en Offizieren” höheren Ranges, die im Sinne Scharn­horsts sowohl ihr Kriegshandw­erk beherrschen als auch “in all­ge­mein wis­senschaftlich­er Hin­sicht” umfassend gebildet sind.

In der deutschen Geschichte verkör­pern solche Offiziere den gen­uin aufk­lärerischen Typus des „Selb­st­denkers“ — fähig und zudem wil­lens, sich des eige­nen Ver­standes zu bedi­enen: Ein­er nüchter­nen und umfassenden Auf­nahme der Gegeben­heit­en fol­gt deren möglichst objek­tive Beurteilung, um daraus schließlich die nöti­gen Fol­gerun­gen abzuleit­en. Diese illu­sion­slose Denkhal­tung entspringt der mil­itärischen Grun­der­fahrung, daß sich jede Lage rapi­de ändern kann, scheint sie auch noch so sich­er und sta­bil. Ihr entsprechen die Tugen­den der Sorgfalt, Genauigkeit und eines unbe­d­ingten Erken­nt­niswil­lens. Franz Uhle-Wet­tler ste­ht dafür nicht nur als Offizier, son­dern auch als His­torik­er vom Fach.

Als Sohn eines Beruf­sof­fiziers diente Uhle-Wet­tler im Zweit­en Weltkrieg zunächst fün­fzehn­jährig als Flakhelfer, dann beim Reich­sar­beits­di­enst und schließlich als Seekadett bei der Kriegs­ma­rine. Nach der Kriegs­ge­fan­gen­schaft, aus der er 1947 heimkehrte, studierte er 1948–1956 Geschichte und ori­en­tal­is­che Sprachen in Mar­burg, wo er sich mit ein­er Arbeit über Staat­s­the­o­rie und Eng­land­verehrung bei den frühen Göt­tinger His­torik­ern (unge­druckt, 1957) bei Fritz Wag­n­er und Wolf­gang Aben­droth pro­movierte.

Zu sein­er Lehrzeit als Stu­dent zählte nicht nur die Arbeit als Bergmann unter Tage während der Semes­ter­fe­rien, son­dern auch ein Studi­um in den USA mit einem Ful­bright-Stipendi­um und ein Stu­di­en­aufen­thalt in Indi­en. Dor­thin war Uhle-Wet­tler auf dem Landweg per Fahrrad gelangt; den Rück­weg trat er zu Pferd durch Afghanistan und Ost­per­sien an. Nach sein­er Pro­mo­tion entsch­ied sich Uhle-Wet­tler für eine weit­ere Lehrzeit: Der knapp 29jährige trat 1956 der neuge­grün­de­ten Bun­deswehr bei, durch­lief die Mühlen der Lauf­bahn­lehrgänge und Ver­wen­dun­gen unge­brochen als kri­tis­ch­er Geist, bis er 1987 den aktiv­en Dienst quit­tierte. Sein mil­itärisches Handw­erk lernte Uhle-Wet­tler bei den Panz­er­grenadieren, der tak­tisch anspruchsvoll­sten und viel­seit­ig­sten Trup­pen­gat­tung des Heeres.

Eine ide­olo­giekri­tis­che Analyse des Sow­jet­marx­is­mus, die der Trup­penof­fizier 1962 unter Pseu­do­nym als Buch pub­lizierte, zeigt ihn intellek­tuell auch außer­halb des Mil­itärs auf der Höhe der Zeit. Der fol­gen­den Gen­er­al­stab­saus­bil­dung schlossen sich Stab­sver­wen­dun­gen, darunter im Supreme Head­quar­ter Allied Pow­ers Europe (SHAPE) an. Bei der Truppe führte Uhle-Wet­tler die Panz­er­lehrbri­gade und über­nahm schließlich das Kom­man­do über die 5. Panz­er­di­vi­sion in Diez an der Lahn. Mit der Beförderung zum Gen­er­alleut­nant ver­band sich dann seine let­zte Ver­wen­dung als Kom­man­deur des NATO Defense Col­lege in Rom.

Als ein dem Trup­pen­di­enst verpflichteter Offizier blieb Uhle-Wet­tler auch in schein­bar trup­pen­fer­nen Posi­tio­nen immer das Beste­hen der Feuer­taufe mit möglichst gerin­gen Ver­lus­ten die Richtschnur des Denkens und Han­delns. Sein auto­bi­ographis­ch­er Rück­blick Rührt Euch! (2006) skizziert plas­tisch und ohne Eit­elkeit die Erfahrun­gen eines Sol­dat­en aus Beru­fung mit der The­o­rie und Prax­is der Inneren Führung in der Bun­deswehr von deren Wiege bis an die Schwelle zur Wiedervere­ini­gung. Uhle-Wet­tlers Aus­rich­tung auf die Kriegstauglichkeit der Truppe führte nicht nur zum stren­gen Blick auf das Detail in der täglichen Aus­bil­dung, son­dern stets auch zur mil­itärthe­o­retis­chen sowie his­torischen Reflex­ion.

Seine bere­its 1966 pub­lizierte Studie Leichte Infan­terie im Atom­zeital­ter, die in den 1980er Jahren unter dem Titel Gefechts­feld Mit­teleu­ropa in über­ar­beit­eter Fas­sung für Furore sorgte, wirft das Prob­lem der Übertech­nisierung, der Stabs- und Ver­sorgungslastigkeit der NATO-Armeen auf: Das durch starke Bebau­ung, viele Wälder und teils stark durch­schnittenes Gelände geprägte poten­tielle Gefechts­feld Deutsch­land erfordere viel stärkere infan­ter­is­tis­che Kampftrup­pen­teile als bis­lang vorge­se­hen. Brisant wurde diese Lage­beurteilung dadurch, daß Uhle-Wet­tler sie mit his­torischem und aktuellem Beleg­ma­te­r­i­al, ins­beson­dere aus dem Kore­akrieg, drastisch unter­mauerte. Die von der Bun­deswehrführung so tabuisierte wie in der Truppe disku­tierte Studie wurde vor allem im Aus­land stark beachtet, da sie dort an ähn­liche Debat­ten anschließen kon­nte.

Wie bei allen her­aus­ra­gen­den Mil­itärs speist sich auch Uhle-Wet­tlers Denken aus gründlich­er Ken­nt­nis der klas­sis­chen Mil­itärgeschichte, die von En-Vogue-His­torik­ern gern als bloße Oper­a­tions­geschichte abgew­ertet wird. Daß die geistige Durch­dringung von oper­a­tiv­en Erfol­gen und Mißer­fol­gen ohne bre­ite Kon­tex­tu­al­isierung nicht möglich ist, zeigen Uhle-Wet­tlers Schlacht­en­stu­di­en Höhe- und Wen­depunk­te deutsch­er Mil­itärgeschichte (1984). In genauer Ken­nt­nis der inter­na­tionalen Fach­lit­er­atur arbeit­et der mehrere Sprachen sprechende His­torik­er pointiert die oper­a­tiv­en Leis­tun­gen in der jew­eili­gen Schlacht und deren his­torische Voraus­set­zun­gen her­aus, wobei er durch schlicht­en inter­na­tionalen Ver­gle­ich manch­es alteingeschlif­f­ene Pauschalurteil hin­sichtlich der deutschen Mil­itärgeschichte als ide­ol­o­gis­ches Stereo­typ ent­lar­ven kann.

In zwei großen Biogra­phien über mil­itärische Schlüs­selfig­uren des Kaiser­re­ichs, den Strate­gen Erich Luden­dorff und den Architek­ten der deutschen Hochseeflotte Alfred von Tir­pitz, ent­fal­tet Uhle-Wet­tler aus den Quellen – und damit wiederum oft­mals gegen nur schein­plau­si­ble Befunde beamteter bun­des­deutsch­er His­torik­er – ein Epochengemälde um den Ersten Weltkrieg. Werde­gang und Denken bei­der Akteure wer­den ent­dä­mon­isiert und die deutschen Posi­tio­nen, bei aller Kri­tik, in ihrer Zeit begrei­flich. Als über­liefern­swerten und stets mod­er­nen Kern der deutschen Geschichte betont dieser his­torisch denk­ende Offizier uner­müdlich die spätestens seit Friedrich dem Großen etablierte Erziehung zur Selb­ständigkeit und Eigenini­tia­tive auf allen Ebe­nen: Wenig­stens als Schlag­wort von der „Auf­tragstak­tik“ hat sie bis heute bei uns über­dauert.

Uhle-Wet­tler starb am 11. Juli 2018 in Meck­en­heim.

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Zitat:

Und wenn das Uner­wartete ein­tritt, so wird der­jenige gewin­nen, der schneller als der Geg­n­er han­delt. Er kann dann gegen Geg­n­er gewin­nen, die an Zahl und Waf­fen stärk­er sind, die eben­falls nach vernün­fti­gen tak­tis­chen Grund­sätzen han­deln und über Grup­penko­hä­sion usw. ver­fü­gen. Er wird wie ein Schachspiel­er sein, der zweimal zieht, wenn der Geg­n­er nur eine Fig­ur bewegt. Falls die Kriegs­geschichte nicht täuscht, ist die viel­berufene deutsche Auf­tragstak­tik der einzige, jeden­falls aber der beste Weg, diese Selb­ständigkeit her­vorzu­rufen und zu bewahren.

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Schriften:

  • Der sow­jetis­che Marx­is­mus, Darm­stadt 1962
  • Gefechts­feld Mit­teleu­ropa. Gefahr der Übertech­nisierung von Stre­itkräften, München 1980
  • Höhe- und Wen­depunk­te deutsch­er Mil­itärgeschichte. Von Leuthen bis Stal­in­grad, Mainz 1984 (zulet­zt Graz 2006)
  • Die Gesichter des Mars, Erlan­gen 1989
  • Erich Luden­dorff in sein­er Zeit. Sol­dat – Stratege – Rev­o­lu­tionär, Berg 1995
  • Alfred von Tir­pitz in sein­er Zeit, Ham­burg 1999 (zulet­zt Graz 2008)
  • Der Krieg. Gestern, heute – mor­gen? Ham­burg 2001
  • [mit Arnold D. Har­vey] Kre­ta und Arn­heim. Die größten Luft­lande­op­er­a­tio­nen des Zweit­en Weltkriegs. Mit einem Vor­wort von Heinz Magen­heimer, Graz/Stuttgart 2004
  • Rührt Euch! Weg, Leis­tung und Krise der Bun­deswehr, Graz 2006