Franz Uhle-Wettler, am 30. Oktober 1927 in Eisleben geboren, zählt zu jenen selten gewordenen “ausgesuchten Offizieren” höheren Ranges, die im Sinne Scharnhorsts sowohl ihr Kriegshandwerk beherrschen als auch “in allgemein wissenschaftlicher Hinsicht” umfassend gebildet sind.
In der deutschen Geschichte verkörpern solche Offiziere den genuin aufklärerischen Typus des „Selbstdenkers“ — fähig und zudem willens, sich des eigenen Verstandes zu bedienen: Einer nüchternen und umfassenden Aufnahme der Gegebenheiten folgt deren möglichst objektive Beurteilung, um daraus schließlich die nötigen Folgerungen abzuleiten. Diese illusionslose Denkhaltung entspringt der militärischen Grunderfahrung, daß sich jede Lage rapide ändern kann, scheint sie auch noch so sicher und stabil. Ihr entsprechen die Tugenden der Sorgfalt, Genauigkeit und eines unbedingten Erkenntniswillens. Franz Uhle-Wettler steht dafür nicht nur als Offizier, sondern auch als Historiker vom Fach.
Als Sohn eines Berufsoffiziers diente Uhle-Wettler im Zweiten Weltkrieg zunächst fünfzehnjährig als Flakhelfer, dann beim Reichsarbeitsdienst und schließlich als Seekadett bei der Kriegsmarine. Nach der Kriegsgefangenschaft, aus der er 1947 heimkehrte, studierte er 1948–1956 Geschichte und orientalische Sprachen in Marburg, wo er sich mit einer Arbeit über Staatstheorie und Englandverehrung bei den frühen Göttinger Historikern (ungedruckt, 1957) bei Fritz Wagner und Wolfgang Abendroth promovierte.
Zu seiner Lehrzeit als Student zählte nicht nur die Arbeit als Bergmann unter Tage während der Semesterferien, sondern auch ein Studium in den USA mit einem Fulbright-Stipendium und ein Studienaufenthalt in Indien. Dorthin war Uhle-Wettler auf dem Landweg per Fahrrad gelangt; den Rückweg trat er zu Pferd durch Afghanistan und Ostpersien an. Nach seiner Promotion entschied sich Uhle-Wettler für eine weitere Lehrzeit: Der knapp 29jährige trat 1956 der neugegründeten Bundeswehr bei, durchlief die Mühlen der Laufbahnlehrgänge und Verwendungen ungebrochen als kritischer Geist, bis er 1987 den aktiven Dienst quittierte. Sein militärisches Handwerk lernte Uhle-Wettler bei den Panzergrenadieren, der taktisch anspruchsvollsten und vielseitigsten Truppengattung des Heeres.
Eine ideologiekritische Analyse des Sowjetmarxismus, die der Truppenoffizier 1962 unter Pseudonym als Buch publizierte, zeigt ihn intellektuell auch außerhalb des Militärs auf der Höhe der Zeit. Der folgenden Generalstabsausbildung schlossen sich Stabsverwendungen, darunter im Supreme Headquarter Allied Powers Europe (SHAPE) an. Bei der Truppe führte Uhle-Wettler die Panzerlehrbrigade und übernahm schließlich das Kommando über die 5. Panzerdivision in Diez an der Lahn. Mit der Beförderung zum Generalleutnant verband sich dann seine letzte Verwendung als Kommandeur des NATO Defense College in Rom.
Als ein dem Truppendienst verpflichteter Offizier blieb Uhle-Wettler auch in scheinbar truppenfernen Positionen immer das Bestehen der Feuertaufe mit möglichst geringen Verlusten die Richtschnur des Denkens und Handelns. Sein autobiographischer Rückblick Rührt Euch! (2006) skizziert plastisch und ohne Eitelkeit die Erfahrungen eines Soldaten aus Berufung mit der Theorie und Praxis der Inneren Führung in der Bundeswehr von deren Wiege bis an die Schwelle zur Wiedervereinigung. Uhle-Wettlers Ausrichtung auf die Kriegstauglichkeit der Truppe führte nicht nur zum strengen Blick auf das Detail in der täglichen Ausbildung, sondern stets auch zur militärtheoretischen sowie historischen Reflexion.
Seine bereits 1966 publizierte Studie Leichte Infanterie im Atomzeitalter, die in den 1980er Jahren unter dem Titel Gefechtsfeld Mitteleuropa in überarbeiteter Fassung für Furore sorgte, wirft das Problem der Übertechnisierung, der Stabs- und Versorgungslastigkeit der NATO-Armeen auf: Das durch starke Bebauung, viele Wälder und teils stark durchschnittenes Gelände geprägte potentielle Gefechtsfeld Deutschland erfordere viel stärkere infanteristische Kampftruppenteile als bislang vorgesehen. Brisant wurde diese Lagebeurteilung dadurch, daß Uhle-Wettler sie mit historischem und aktuellem Belegmaterial, insbesondere aus dem Koreakrieg, drastisch untermauerte. Die von der Bundeswehrführung so tabuisierte wie in der Truppe diskutierte Studie wurde vor allem im Ausland stark beachtet, da sie dort an ähnliche Debatten anschließen konnte.
Wie bei allen herausragenden Militärs speist sich auch Uhle-Wettlers Denken aus gründlicher Kenntnis der klassischen Militärgeschichte, die von En-Vogue-Historikern gern als bloße Operationsgeschichte abgewertet wird. Daß die geistige Durchdringung von operativen Erfolgen und Mißerfolgen ohne breite Kontextualisierung nicht möglich ist, zeigen Uhle-Wettlers Schlachtenstudien Höhe- und Wendepunkte deutscher Militärgeschichte (1984). In genauer Kenntnis der internationalen Fachliteratur arbeitet der mehrere Sprachen sprechende Historiker pointiert die operativen Leistungen in der jeweiligen Schlacht und deren historische Voraussetzungen heraus, wobei er durch schlichten internationalen Vergleich manches alteingeschliffene Pauschalurteil hinsichtlich der deutschen Militärgeschichte als ideologisches Stereotyp entlarven kann.
In zwei großen Biographien über militärische Schlüsselfiguren des Kaiserreichs, den Strategen Erich Ludendorff und den Architekten der deutschen Hochseeflotte Alfred von Tirpitz, entfaltet Uhle-Wettler aus den Quellen – und damit wiederum oftmals gegen nur scheinplausible Befunde beamteter bundesdeutscher Historiker – ein Epochengemälde um den Ersten Weltkrieg. Werdegang und Denken beider Akteure werden entdämonisiert und die deutschen Positionen, bei aller Kritik, in ihrer Zeit begreiflich. Als überliefernswerten und stets modernen Kern der deutschen Geschichte betont dieser historisch denkende Offizier unermüdlich die spätestens seit Friedrich dem Großen etablierte Erziehung zur Selbständigkeit und Eigeninitiative auf allen Ebenen: Wenigstens als Schlagwort von der „Auftragstaktik“ hat sie bis heute bei uns überdauert.
Uhle-Wettler starb am 11. Juli 2018 in Meckenheim.
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Zitat:
Und wenn das Unerwartete eintritt, so wird derjenige gewinnen, der schneller als der Gegner handelt. Er kann dann gegen Gegner gewinnen, die an Zahl und Waffen stärker sind, die ebenfalls nach vernünftigen taktischen Grundsätzen handeln und über Gruppenkohäsion usw. verfügen. Er wird wie ein Schachspieler sein, der zweimal zieht, wenn der Gegner nur eine Figur bewegt. Falls die Kriegsgeschichte nicht täuscht, ist die vielberufene deutsche Auftragstaktik der einzige, jedenfalls aber der beste Weg, diese Selbständigkeit hervorzurufen und zu bewahren.
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Schriften:
- Der sowjetische Marxismus, Darmstadt 1962
- Gefechtsfeld Mitteleuropa. Gefahr der Übertechnisierung von Streitkräften, München 1980
- Höhe- und Wendepunkte deutscher Militärgeschichte. Von Leuthen bis Stalingrad, Mainz 1984 (zuletzt Graz 2006)
- Die Gesichter des Mars, Erlangen 1989
- Erich Ludendorff in seiner Zeit. Soldat – Stratege – Revolutionär, Berg 1995
- Alfred von Tirpitz in seiner Zeit, Hamburg 1999 (zuletzt Graz 2008)
- Der Krieg. Gestern, heute – morgen? Hamburg 2001
- [mit Arnold D. Harvey] Kreta und Arnheim. Die größten Luftlandeoperationen des Zweiten Weltkriegs. Mit einem Vorwort von Heinz Magenheimer, Graz/Stuttgart 2004
- Rührt Euch! Weg, Leistung und Krise der Bundeswehr, Graz 2006