Geschichte der religiösen Ideen — Mircea Eliade, 1976–1983

Mit sein­er mon­u­men­tal­en Reli­gion­s­geschichte hat Mircea Eli­ade am Ende seines Lebens ein langge­hegtes Pro­jekt real­isiert und sein Opus mag­num geschaf­fen. Das Werk gilt als geistige Summe, zieht es doch das Faz­it aus einem ganzen Forscher­leben. Bezeu­gen will Eli­ade die uni­verselle Kreativ­ität des religiösen Men­schen, über­all und zu jed­er Zeit, und die tiefe Kor­re­spon­denz unser­er exis­ten­tiellen Ver­fas­sung mit den Tat­sachen des Glaubens. Eli­ade will die his­torische Erin­nerungsar­beit zur großen Über­liefer­ung ausweit­en. Ihre »königliche Funk­tion«, so Eli­ade über die Reli­gion­swis­senschaft, sei, »die mythisch-religiösen Tra­di­tio­nen« zu bewahren, die »über­all auf der Welt … ver­schwinden«. Das macht sie zu einem »Sam­mel­beck­en … in dem sich alle über­liefer­ten religiösen Werte und Mod­elle ver­ber­gen kön­nten«.

Als uni­ver­sale Reli­gion­shis­to­rie ste­ht Eli­ades Werk markant für sich, doku­men­tiert es doch den ambi­tion­ierten Ver­such eines einzel­nen im Zeital­ter arbeit­steiliger Spezial­isierung und ent­gren­zter Infor­ma­tion. Ganze Diszi­plinen – so die Ori­en­tal­is­tik, klas­sis­che Philolo­gie, The­olo­gie oder Völk­erkunde – wirken in der mod­er­nen Reli­gion­skunde zusam­men. Vor diesem Hin­ter­grund erscheinen Syn­the­sen im Sinn des 19. Jahrhun­derts heute obso­let. Zwar gibt es ein­schlägige Abbre­via­turen in knap­per Form zu den Wel­tre­li­gio­nen, doch wer­den mehrbändi­ge Pro­jek­te in der Regel nur mehr im Team real­isiert. Eli­ades Ehrgeiz zielte darauf, die Leis­tung James Fraz­ers in der Gegen­wart zu erneuern. Dem war mit seinem Gold­e­nen Zweig (The gold­en Bough, 12 Bde., 1890–1915), der an den Mythos von Tod und Aufer­ste­hung anknüpft, ein Epos der religiösen Men­schheit gelun­gen – und ein ful­mi­nan­ter Erfolg beim bürg­er­lichen Pub­likum dazu. Reli­giosität selb­st bedeutete für Fraz­er allerd­ings nur ein »defiz­itäres Ver­hal­ten«, dessen irrtüm­liche Welt­sicht zu über­winden war. Aufk­lärung und exper­i­mentelle Wis­senschaft soll­ten Reli­gion erübri­gen.

Ganz anders ist Eli­ade von Wert und Eigen­ständigkeit des religiösen Anliegens überzeugt. Ver­weist es als anthro­pol­o­gis­che Kon­stante doch auf tiefer liegende Ver­hal­tens­muster, ja mehr noch: auf ideelle Poten­zen, die unsere Geschichte durchziehen. Das motiviert eine kom­par­a­tive Auswer­tung des his­torischen Mate­ri­als und seine Deu­tung nach arche­typ­is­chen Mod­ellen.

Diese ahis­torische Optik jedoch hat­ten ihm seine Kri­tik­er stets vorge­wor­fen. Also sucht er in seinem Spätwerk, Entwick­lung und Sein, Chronolo­gie und Syn­opse, Längs- und Quer­schnitte, Genese und Struk­tur plau­si­bel zu inte­gri­eren und eine dichte Syn­these zu schaf­fen. Ein­gang darin fan­den seine in Jahrzehn­ten erar­beit­eten Spezialun­ter­suchun­gen: die Erken­nt­nis des hin­duis­tis­chen Feldes, der Alchemie, des Schaman­is­mus, der aus­tralis­chen Reli­gio­nen oder der Kos­molo­gien. Dergestalt ver­band er his­torische und sys­tem­a­tis­che Aspek­te und kon­stru­ierte sie zur Ein­heit.

Eli­ades dialek­tis­che Denk­form set­zt in der archais­chen Bild­welt an und endet bei der coin­ci­den­tia oppos­i­to­rum des Niko­laus von Cues. Sie nimmt das his­torisch Konkrete auf; doch will sie erkun­den, was das Phänomen uns »sagen will«, ja mehr noch, »was ein religiös­es Fak­tum durch die Geschichte hin­durch an Übergeschichtlichem offen­bart«. In der Idee der Hiero­phanie, der Erschei­n­ung des Göt­tlichen als des unendlichen Sinns, als der unbe­d­ingten Dimen­sion im zeitlichen Moment, im rel­a­tiv­en, dem Men­schen faßlichen Aus­druck – sei es als heiliger Baum oder im Wun­der der Inkar­na­tion -, gewin­nt sein Pro­gramm Gestalt, ist seine Reli­gion­skunde sinnhaft und method­isch ver­ankert.

So entste­ht eine fes­sel­nde Tiefend­eu­tung aus Vor- und Rück­deu­tun­gen, wobei das Ganze dem Autor stets gewär­tig bleibt. Der zweite Band endet beispiel­sweise mit der göt­tlichen Deme­ter von Eleu­sis, deren Wiederkehr die Griechen 1940 bewegte. Das exo­tis­che Ereig­nis kann als par­a­dig­ma­tis­che Bestä­ti­gung der These Eli­ades von der »Umkehrbarkeit« der Zeit gel­ten. Sie wird ermöglicht durch die meta­ph­ysis­che Frei­heit des Men­schen: in jedem geschichtlichen Ort das Unvergängliche, die ewigen Gestal­ten des Seins zu erfahren. So ver­schmilzt der His­torik­er Eli­ade lin­eare Zeitlichkeit als »indi­vidu­elle Entwick­lung« (nicht aber als moralis­chen »Fortschritt«) mit dem Tiefen­grund der »Urphänomene«: »Die Dialek­tik des Heili­gen selb­st geht auf end­lose Wieder­hol­ung ein­er Rei­he von Arche­typen aus.« Ein »his­torisch­er Moment« kann struk­turell so »eine um 1000 Jahre ältere oder jün­gere Hiero­phanie« wieder­brin­gen. In diesem Para­dox grün­det die Ein­heit der Reli­gion­s­geschichte.

Eli­ade hat­te zunächst ein zweibändi­ges Werk geplant. Der über­schaubare Text sollte ein dicht­es Bild des Ganzen evozieren. Doch weit­ete das Pro­jekt sich zu einem drit­ten und schließlich vierten Band aus, über dessen Vorar­beit­en der Autor starb. So ent­stand fak­tisch ein kom­plettes Hand­buch, das als enzyk­lopädis­ches Nach­schlagew­erk nutzbar ist. Lit­er­arisch gele­sen wurde eher das Ver­gle­ich­swerk seines Kol­le­gen Joseph Camp­bell Die Masken Gottes (1959–68), deren Pop­u­lar­ität indes seit den Achtzigern rasch schwand. Anders bei Eli­ade: Rel­a­tiv frei von den Debat­ten um seine Phänom­e­nolo­gie und auch (poli­tis­che) Biogra­phie wird seine Reli­gion­shis­to­rie rezip­iert und kon­nte sich, vor allem im deutschen Sprachraum, als Lese-und Nach­schlagew­erk konkur­ren­z­los etablieren.

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Zitat:

Die Erken­nt­nis ein­er wirk­lichen und sin­nvollen Welt ist aufs innig­ste mit der Ent­deck­ung des Heili­gen ver­bun­den. Denn durch die Erfahrung des Heili­gen hat der men­schliche Geist den Unter­schied zwis­chen dem erkan­nt, was sich als wirk­lich, mächtig, bedeut­sam und sin­nvoll enthüllt, und dessen Gegen­teil – dem chao­tis­chen und gefahrvollen Fluß der Dinge, ihrem zufäl­li­gen und sinnlosen Auf­gang und Unter­gang. Das »Heilige« ist also ein Ele­ment der Struk­tur des Bewußt­seins und nicht ein Sta­di­um in der Geschichte dieses Bewußt­seins.

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Aus­gabe:

  • Fünf­bändi­ge Taschen­buchaus­gabe (mit Quel­len­band), Freiburg: Herder 1993

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Lit­er­atur:

  • Hans Kip­pen­berg: Die Ent­deck­ung der Reli­gion­s­geschichte. Reli­gion­swis­senschaft und Mod­erne, München 1997
  • Sezes­sion (2007), Heft 16: Mircea Eli­ade