Geschlecht und Charakter — Otto Weininger,1903

Das einzige autorisierte Werk Otto Weiningers ver­di­ent es, einzi­gar­tig genan­nt zu wer­den. Die in Geschlecht und Charak­ter umbe­nan­nte und erweit­erte Fas­sung sein­er Dis­ser­ta­tion »Eros und Psy­che« durch­mißt die ganze Spannbre­ite zwis­chen pos­i­tiv­er Wis­senschaft und speku­la­tiv­er Philoso­phie: Aus ein­er empirischen Charak­terkunde der Geschlechter entwick­elt der junge Autor eine kul­turkri­tisch pointierte tran­szen­den­tale Geschlechter­meta­physik. Method­isch geschult am Empiriokri­tizis­mus fol­gt Weininger der Annahme eines »psy­choph­ysis­chen Par­al­lelis­mus«, um aus den »biol­o­gisch-psy­chol­o­gis­chen« Prämis­sen sein­er sex­uellen Typen­lehre schließlich »psy­chol­o­gisch-philosophis­che« Kon­se­quen­zen zu ziehen, die auf nicht weniger als eine Resti­tu­tion der Pla­tonis­chen Ontolo­gie, der Kan­tis­chen Ethik und der christlichen Reli­giosität hin­aus­laufen.

Nach der hypo­thetis­chen Maß­gabe ein­er ursprünglichen Androg­y­nität des Men­schen wer­den »Mann« und »Weib« als ide­al­typ­is­che Begriffe einge­führt, woge­gen die realen Indi­viduen sich durchgängig als Mis­chfor­men erweisen: So wenig es rein männliche Män­ner und rein weib­liche Frauen gibt, so wenig find­en sich auss­chließlich het­ero­sex­uelle oder homo­sex­uelle Naturen. Diese Zwis­chen­stufen der sex­uellen Iden­tität wie der sex­uellen Ori­en­tierung stellen keine pathol­o­gis­chen, son­dern nor­male Phänomene dar, die sich aus der ange­bore­nen Bisex­u­al­ität des Men­schen erk­lären, welche ihrer­seits aus der sex­uellen Undif­feren­ziertheit sein­er embry­onalen Anlage erwächst. Kon­se­quent verbindet Weininger mit sein­er Ent­pathol­o­gisierung der Homo­sex­u­al­ität die Forderung nach ihrer Entkrim­i­nal­isierung.

Weiningers pro­gres­sive Sex­u­alpoli­tik bleibt indessen gebun­den an eine ultra­kon­ser­v­a­tive Geschlechter­ty­polo­gie, die eine irre­duz­i­ble und zudem asym­metrische Geschlech­ter­dif­ferenz pos­tuliert: »Der Mann hat den Penis, aber die Vagi­na hat die Frau.« Der ganze Kör­p­er des Weibes imponiert so als »Dépen­dance seines Geschlecht­steiles« und Weib­lichkeit über­haupt als scham­los uni­verselle Sex­u­al­ität. Diese tritt nicht nur im Typus der Pros­ti­tu­ierten zutage, son­dern eben­so in der ihr ide­al­typ­isch ent­ge­genge­set­zten Mut­ter, für welche die Sex­u­al­ität zwar kein Selb­stzweck, aber als Mit­tel zum Zweck der Schwanger­schaft nicht min­der zen­tral ist. In ihrer Naturver­fal­l­en­heit erweisen sich die instink­tive Mut­ter­liebe und die trieb­hafte Dirnen­liebe als gle­icher­maßen unsit­tlich. Während freilich die dem Gat­tungs­ge­setz gehorchende Mut­ter den Koi­tus um des »Deposi­tums« willen bejaht, will die Dirne darin als Indi­vidu­um »ver­schwinden, zer­malmt, zer­nichtet wer­den vor Wol­lust«.

Die im sex­uellen Genießen sich offen­barende »ontol­o­gis­che Nichtigkeit« des Weibes aber weckt die Furcht des Mannes vor dem »lock­enden Abgrund des Nichts«. Um »Etwas« zu sein, muß der Mann, der mehr als bloße Sex­u­al­ität ist, seine Not über­winden und der weib­lichen »Materie« eine schöpferische »Form« auf­prä­gen; denn nur als »Sub­jekt«, welch­es sich das Weib als »Objekt« ent­ge­gen­stellt, ver­mag er den fleis­chlichen »Willen zur Lust« durch einen geisti­gen »Willen zum Wert« zu brechen, wie er sich in den ewigen Ord­nun­gen der Logik, Ethik und Reli­gion man­i­festiert. Während die von einem äußer­lichen »Willen zur Macht« beherrscht­en Helden und Tat­men­schen noch in die empirischen Gren­zen des Zeitlichen geban­nt sind, stoßen dage­gen die Heili­gen und Reli­gion­ss­tifter ins innere Reich des tran­szen­den­tal­en Geistes als der erhaben­sten Frei­heit vom Naturge­setz vor.

Weininger tritt »nicht für die Emanzi­pa­tion des Weibes vom Manne, son­dern für die Emanzi­pa­tion des Weibes vom Weibe« ein. Er erken­nt die »völ­lige Berech­ti­gung des Anspruch­es auf Gle­ich­heit vor dem Geset­ze« an, wobei diese nicht eo ipso auch »moralis­che und intellek­tuelle Gle­ich­heit« bedeutet. Allerd­ings schätzt Weininger ger­ade intellek­tuelle und kinder­lose Frauen und fordert die Män­ner dazu auf, ihre Abnei­gung gegen das »männliche Weib« zu über­winden, welche nur ihrem ego­is­tis­chen Wun­sch entspringt, die Frau als Pro­jek­tion­ssub­strat und Sex­u­alob­jekt zu benutzen. Über­haupt ver­dammt Weininger »jede Bar­barei des männlichen wider das weib­liche Geschlecht« und ver­ficht eine Ethik der Enthalt­samkeit, da allein im Rah­men eines asex­uellen Geschlechter­ver­hält­niss­es die rein­men­schliche Würde der Frau gewahrt wer­den kann. Wie für den Frauen­haß macht Weininger schließlich auch für den Juden­haß gel­tend, daß der Men­sch nur den­jeni­gen ver­ab­scheut, »durch wen er sich unan­genehm an sich selb­st erin­nert fühlt«: Der Anti­semitismus weist immer auch jüdis­che Eige­narten auf, und darum sind die aggres­sivsten Anti­semiten nicht unter den Ari­ern, son­dern unter den Juden selb­st zu find­en.

Otto Weininger beg­ing in Lud­wig van Beethovens Ster­be­haus in Wien Selb­st­mord. Der Schuß galt seinem »Dop­pel­gänger«, diesem »Ensem­ble aller bösen Eigen­schaften des Ich«: dem Weib und dem Juden in ihm selb­st. Inmit­ten »nicht nur der jüdis­chsten, son­dern auch der weibis­chsten aller Zeit­en« rang der öster­re­ichis­che Philosoph ungarisch-jüdis­ch­er Herkun­ft nach sein­er formellen Kon­ver­sion zum protes­tantis­chen Chris­ten­tum verzweifelt um eine sub­stantielle Regen­er­a­tion männlich-arisch­er Geistigkeit. Sein tragis­ches Scheit­ern an den selb­staufer­legten asketis­chen Ide­alen ließ ihn zu einem schillern­den Vertreter der Dekadenz wer­den; sein para­noi­der Scharf­sinn in der Juden- und Geschlechter­frage machte ihn zu einem stren­gen Vor­denker des Faschis­mus.

Weiningers eben­so ver­we­genes wie ver­stören­des Werk ent­fal­tete sein­erzeit eine unge­heure Wirkung auf die Kul­tur des Fin de Siè­cle und avancierte rasch zu einem Klas­sik­er der Wiener Mod­erne. Wei­thin wurde Weininger als genialer Vor­läufer Freuds gefeiert. Zur erlese­nen Schar sein­er Verehrer zählten Karl Kraus, Kaf­ka, Kubin, Canet­ti, Musil, Trakl, Strind­berg und Schön­berg. Weiningers Weltan­schau­ung wirk­te aber auch auf Mus­soli­ni, Evola und Cio­ran. Einen »Heili­gen des Juden­tums« nan­nte ihn Spen­gler, und Hitler erin­nerte an Diet­rich Eckarts Wort von dem »einen anständi­gen Juden, der sich das Leben genom­men hat«. Gle­ich­wohl war Geschlecht und Charak­ter auf­grund der jüdis­chen Abstam­mung seines Autors im Drit­ten Reich ver­boten. Heute wiederum ist es wegen sein­er anti­semi­tis­chen und antifem­i­nis­tis­chen Aus­rich­tung ver­pönt.

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Zitat:

Der Koi­tus ist die Bezahlung, welche der Mann der Frau für ihre Unter­drück­ung zu leis­ten hat. Und so sehr es die Frau charak­ter­isieren mag, daß sie um diesen Preis sicher­lich stets auch dem ärg­sten Sklaven­joch sich gerne fügt, der Mann darf auf den Han­del nicht einge­hen, weil auch er sit­tlich dabei zu kurz kommt. Der Haß gegen das Weib ist nur der Haß des Mannes gegen die eigene, noch nicht über­wun­dene Sex­u­al­ität.

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Aus­gabe:

  • München: Matthes & Seitz 1980

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Lit­er­atur:

  • Jacques Le Rider/Norbert Leser (Hrsg.): Otto Weininger. Werk und Wirkung, Wien 1984
  • Jacques Le Rid­er: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifem­i­nis­mus und Anti­semitismus. Mit der Erstveröf­fentlichung der »Rede auf Otto Weininger« von Heim­i­to von Doder­er, Wien/München 1985