Grundzüge der Völkerbiologie — Ilse Schwidetzky, 1950

Die biol­o­gis­che Ver­schieden­heit des Men­schen fällt unter das linke »Anthro­polo­gie­ver­bot« (Odo Mar­quard). Zu ihr gehört nicht nur die Ver­schieden­heit der Rassen, son­dern auch die der Indi­viduen inner­halb ein­er Gesellschaft. Seit dem 19. Jahrhun­dert ist diese oft der Aus­gangspunkt sozial­dar­win­is­tis­ch­er The­o­rien gewe­sen (z.B. Vach­er de Lapouge, Otto Ammon). Der Mainz­er Anthro­polo­gin Ilse Schwidet­zky kommt das Ver­di­enst zu, mit den Grundzü­gen der Völker­biolo­gie das bish­er einzige umfassende wis­senschaftliche Lehrbuch der Sozial-und Völker­biolo­gie geschrieben zu haben.

Schwidet­zky hat das The­ma in die drei Haupt­abteilun­gen Wan­der­biolo­gie, Sozial­bi­olo­gie und Fortpflanzungs­bi­olo­gie gegliedert. Inner­halb dieser Haupt­abteilun­gen wer­den die drei völker­biol­o­gis­chen Grund­vorgänge Wan­derung, Siebung und Auslese anhand von vie­len konkreten Beispie­len dargestellt. Grafiken und Bilder ver­an­schaulichen die Beispiele. Es geht zum Beispiel um eth­nis­che Wan­derungs- und Assim­i­la­tionsvorgänge, die Abdrän­gung kul­turell und biol­o­gisch urtüm­licher­er For­men in Randge­bi­ete (z.B. Buschmän­ner in Süd­west­afri­ka, Wed­da in Indi­en), die Siebungs- und Ausle­se­prozesse bei Bin­nen- und Völk­er­wan­derun­gen, um eth­nisch geschichtete Bevölkerun­gen als Folge von Eroberun­gen (z.B. Kas­ten­we­sen in Indi­en), Siebung­sprozesse beim sozialen Auf­stieg (nach Begabung und kör­per­lichen Merk­malen, die »höheren« Stände), mor­phol­o­gis­che Sozial- und Beruf­stypen, Siebung­sprozesse bei der Land-Stadt-Wan­derung, um Part­ner­wahl (Paarungssiebung) und Heiratskreise, die Ausle­sewirkun­gen der kul­turellen Umwelt und die dif­feren­zierte Fortpflanzung unter­schiedlich­er sozialer Grup­pen. Auf­fal­l­end ist der nüchterne Ton in Schwidet­zkys Buch; ide­ol­o­gis­che Ambi­tio­nen find­en sich nicht, zurück­hal­tende und abwä­gende Urteile ste­hen im Vorder­grund.

Die Grundzüge der Völker­biolo­gie fan­den nach ihrem Erscheinen in den anthro­pol­o­gis­chen und sozi­ol­o­gis­chen Fachzeitschriften viel Lob. Wil­helm Emil Mühlmann nan­nte es das »beste Ele­men­tar­buch der Sozialan­thro­polo­gie …, das wir zur Zeit haben«. Den­noch blieb das Buch merk­würdig fol­gen­los, was vielle­icht auch mit dem Zeit­punkt seines Erscheinens zusam­men­hängt. Die Sozialan­thro­polo­gie hat­te in Deutsch­land noch eine kurze Blüte in den fün­fziger und sechziger Jahren (Karl Valentin Müller, Hans W. Jür­gens), ver­fiel aber seit den siebziger Jahren ein­er effek­tiv­en Tabuisierung. Sei­ther kommt in Sozi­olo­gielexi­ka oft nicht ein­mal mehr der Schlüs­sel­be­griff »Siebung« vor. Tat­säch­lich aber trifft Mühlmanns Bew­er­tung auch nach sechzig Jahren noch zu. Das Buch Schwidet­zkys ist in kein­er Weise über­holt und enthält keine Fak­ten oder Schlüsse, die heute nicht mehr gültig wären. Allen­falls kön­nte man es durch neuere Beispiele, etwa aus dem Bere­ich der Genetik, ergänzen.

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Zitat:

Jede his­torische Sit­u­a­tion eines Volkes stellt nicht nur mit Sozialauf­bau und Wirtschaft, son­dern auch mit allen seinen geisti­gen Wer­tun­gen ein ganz indi­vidu­elles Siebungs- und Ausle­sesys­tem dar, das darüber entschei­det, welche biol­o­gis­chen Typen sozial auf- oder absteigen, in gün­stige oder ungün­stige Wach­s­tumsver­hält­nisse ver­set­zt wer­den.

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Lit­er­atur:

  • Wil­helm Emil Mühlmann: Ilse Schwidet­zky zum 65. Geburt­stag, in: Homo 23 (1972)