Holthusen war ein Lyriker, Erzähler, Kritiker und Essayist. Der Sohn eines evangelischen Pfarrers, geboren am 15. April 1929 in Rendsburg, besuchte in Hildesheim das Gymnasium. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Tübingen, Berlin und München, wo er 1937 über den Lyriker Rainer Maria Rilke promoviert wurde. Aus Trotz gegen den deutschnational und lutheranisch gesinnten Vater und im jugendlichen Glauben an einen nationalen Aufschwung trat er 1933 in die SS ein. 1937 wurde er Mitglied der NSDAP. Besondere politische Aktivitäten aus dieser Zeit sind nicht bekannt und Holthusen auch nicht vorgeworfen worden. Im Krieg war er Soldat an verschiedenen europäischen Schauplätzen. Im April 1945 beteiligte er sich an der – vergeblichen — „Freiheitsaktion Bayern“ zur raschen Einstellung der deutschen Kampfhandlungen.
Nach dem Krieg ließ er sich als freier Schriftsteller in München nieder. Sein künstlerisches Werk umfaßt drei Gedichtbände und einen Roman. Die Gedichte stehen unter dem Einfluß von Rilke, T. S. Eliot und W. H. Auden. Holthusen spricht darin auch Zeitprobleme wie die Schuldfrage an, die er aus einem metaphysischen Blickwinkel zu erfassen versucht. Größere Wirkung und Bedeutung erreichte er auf dem Gebiet der Essayistik und der Literaturkritik. „In den fünfziger Jahren beherrschte er die deutsche Literatur, soweit ein Kritisierender sie beherrschen kann.“ (Joachim Kaiser)
1949 veröffentlichte er eine Analyse des „Faustus“-Romans von Thomas Manns, dem er vorwarf, das Religiöse säkularisiert und das metaphysische Böse politisch simplifiziert zu haben, um „mit einigen Kunstgriffen aus der Geschichte seines Volkes eine Skandalaffaire (zu) machen“. Holthusen antizipierte damit kritisch das Schaffensprinzip, das sich in der deutschen Nachkriegsliteratur bald durchsetzte. Sein bekanntestes und bis in die Gegenwart zitiertes Buch ist die Essay-Sammlung Der unbehauste Mensch (1951). Der Titel lieferte das Stichwort, mit dem das Lebensgefühl der Nachkriegsgeneration erfaßt wurde. Holthusens Haltung wird als „christlicher Existentialismus“ gedeutet, was nicht im eng konfessionellen Sinn verstanden werden darf. Unter der Überschrift „Konversion und Freiheit“ legte Holthusen seine Vorstellung von der Position des (westlichen) Intellektuellen im Kalten Krieg dar. Die Gleichsetzung von politischer und geistiger Freiheit und die Aufforderung zum politischen Engagement lehnte er ab. Das „total durchpolitisierte Leben der modernen Gesellschaft“ nannte er eine „öffentliche Krankheit“ und versprach „sich von der Entpolitisierung eine Entgiftung der Atmosphäre“.
Holthusen, der zustimmend die Einschätzung Ernst Jüngers zitierte, von einer Niederlage wie der deutschen im Jahr 1945 erhole ein Volk sich nicht mehr, etablierte sich pragmatisch im Literaturbetrieb. Seine einst vehemente Kritik an Thomas Mann klang im Unbehausten Menschen schon wesentlich verhaltener, und in der dritten, 1955 erschienenen Auflage, zeigt er viel Verständnis für Werke der zeitgenössischen Literatur, welche die deutsche Geschichte gleichfalls skandalisierten. Gastprofessuren führten ihn an mehrere amerikanische Universitäten, von 1961 bis 1964 leitete er das Goethehaus in New York. Er war von 1968 bis 1974 Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München.
Sein öffentlicher Einfluß aber ging zurück. Zum Problem wurde ihm seine Mitgliedschaft in der SS. 1960 weigerte sich die jüdische Lyrikerin Masha Kaleko, den Fontane-Preis aus der Hand Holthusens, der die Literaturabteilung der Berliner Akademie der Künste leitete, entgegenzunehmen. Die Politisierung der Schriftsteller, die sich in den 1960er Jahren verstärkte, verstörte ihn. 1983 verließ er die Berliner Akademie, als sie unter ihrem Präsidenten Günter Grass unmittelbar in die Debatte um die Atomrüstung eingriff. In der Auseinandersetzung um Paul Celan („Immer wenn Paul Celan zur Debatte steht, pflegt der deutsche Kritiker ein Gesicht zu machen wie ein Meßdiener vor dem Altar.“) wurden Holthusens ästhetische Einwände mit politischen Argumenten beantwortet. Zwar schätzte er Celans „Todesfuge“ hoch ein, kritisierte 1964 aber dessen „Vorliebe für die in surrealistischen X‑Beliebigkeiten schwelgenden Genitiv-Metaphern“. Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi antwortete, daß Holthusen „die Erinnerung an das, was gewesen ist, durch den Vorwurf der Beliebigkeit zu vereiteln“ trachte. Er paßte immer weniger in die veränderte Zeit. Als er am 21. Januar 1997 in München starb, war es längst ruhig um ihn geworden.
Im Zuge einer Historisierung der deutschen Nachkriegsliteratur dürfte sich für Holthusens Essayistik die Möglichkeit der Wiederentdeckung eröffnen. Spuren seiner Thomas-Mann-Kritik sind im Werk des Bielefelder Literaturwissenschaftlers und langjährigen „Merkur“-Herausgebers Karl Heinz Bohrer nachweisbar, ohne daß dieser auf sie aufmerksam gemacht hat.
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Zitat:
Nicht nur, daß sich der moderne Mensch von den alten geistigen Ordnungen losgemacht hat: er hat auch das System der bürgerlichen Gesellschaft zertrümmert und ihr Welt- und Lebensgefühl abgeschüttelt, ja er scheint das Kostüm des Kulturmenschen überhaupt abgeworfen zu haben oder im Begriff zu sein es zu tun.
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Schriften:
- Rilkes „Sonnette an Orpheus“, München 1937
- Klage um den Bruder. Sonette, Hamburg 1947
- Hier in der Zeit. Gedichte, München 1949
- Die Welt ohne Transzendenz. Eine Studie zu Thomas Manns „Dr. Faustus“ und seinen Nebenschriften, Hamburg 1949
- Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur, München 1951 (3. erw. Auflage 1955)
- Labyrinthische Jahre. Neue Gedichte, München 1952
- Ja und Nein. Neue kritische Versuche, München 1954
- Das Schiff. Aufzeichnungen eines Passagiers, München 1956
- Freiwillig zur SS, in: Merkur 1966, Heft 223 und 224
- Amerikaner und Deutsche: Dialog zweier Kulturen. Erw. Fassung eines Vortrags, München 1977
- Sartre in Stammheim: 2 Themen aus den Jahren der großen Turbulenz, Stuttgart 1982
- Opus 19. Reden und Widerreden aus 25 Jahren, München/ Zürich 1983
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Literatur:
- Hanna Klessinger: Bekenntnis zur Lyrik. Hans Egon Holthusen, Karl Krolow, Heinz Piontek und die Literaturpolitik der Zeitschrift Merkur in den Jahren 1947 bis 1956, Göttingen 2011
- Mechthild Raabe: Hans Egon Holthusen. Bibliographie 1931–1992, Hildesheim 2000
- John Joseph Rock: Toward Orientation. The Life and Work of Hans Egon Holthusen, phil. Diss. Pennsylvania State University 1980