Holthusen, Hans Egon, Schriftsteller, 1929–1997

Holthusen war ein Lyrik­er, Erzäh­ler, Kri­tik­er und Essay­ist. Der Sohn eines evan­ge­lis­chen Pfar­rers, geboren am 15. April 1929 in Rends­burg, besuchte in Hildesheim das Gym­na­si­um. Er studierte Ger­man­is­tik, Geschichte und Philoso­phie in Tübin­gen, Berlin und München, wo er 1937 über den Lyrik­er Rain­er Maria Rilke pro­moviert wurde. Aus Trotz gegen den deutschna­tion­al und lutheranisch gesin­nten Vater und im jugendlichen Glauben an einen nationalen Auf­schwung trat er 1933 in die SS ein. 1937 wurde er Mit­glied der NSDAP. Beson­dere poli­tis­che Aktiv­itäten aus dieser Zeit sind nicht bekan­nt und Holthusen auch nicht vorge­wor­fen wor­den. Im Krieg war er Sol­dat an ver­schiede­nen europäis­chen Schau­plätzen. Im April 1945 beteiligte er sich an der – verge­blichen — „Frei­heit­sak­tion Bay­ern“ zur raschen Ein­stel­lung der deutschen Kampfhand­lun­gen.

Nach dem Krieg ließ er sich als freier Schrift­steller in München nieder. Sein kün­st­lerisches Werk umfaßt drei Gedicht­bände und einen Roman. Die Gedichte ste­hen unter dem Ein­fluß von Rilke, T. S. Eliot und W. H. Auden. Holthusen spricht darin auch Zeit­prob­leme wie die Schuld­frage an, die er aus einem meta­ph­ysis­chen Blick­winkel zu erfassen ver­sucht. Größere Wirkung und Bedeu­tung erre­ichte er auf dem Gebi­et der Essay­is­tik und der Lit­er­aturkri­tik. „In den fün­fziger Jahren beherrschte er die deutsche Lit­er­atur, soweit ein Kri­tisieren­der sie beherrschen kann.“ (Joachim Kaiser)

1949 veröf­fentlichte er eine Analyse des „Faustus“-Romans von Thomas Manns, dem er vor­warf, das Religiöse säku­lar­isiert und das meta­ph­ysis­che Böse poli­tisch sim­pli­fiziert zu haben, um „mit eini­gen Kun­st­grif­f­en aus der Geschichte seines Volkes eine Skan­dalaf­faire (zu) machen“. Holthusen antizip­ierte damit kri­tisch das Schaf­fen­sprinzip, das sich in der deutschen Nachkriegslit­er­atur bald durch­set­zte. Sein bekan­ntestes und bis in die Gegen­wart zitiertes Buch ist die Essay-Samm­lung Der unbe­hauste Men­sch (1951). Der Titel lieferte das Stich­wort, mit dem das Lebens­ge­fühl der Nachkriegs­gen­er­a­tion erfaßt wurde. Holthusens Hal­tung wird als „christlich­er Exis­ten­tial­is­mus“ gedeutet, was nicht im eng kon­fes­sionellen Sinn ver­standen wer­den darf. Unter der Über­schrift „Kon­ver­sion und Frei­heit“ legte Holthusen seine Vorstel­lung von der Posi­tion des (west­lichen) Intellek­tuellen im Kalten Krieg dar. Die Gle­ich­set­zung von poli­tis­ch­er und geistiger Frei­heit und die Auf­forderung zum poli­tis­chen Engage­ment lehnte er ab. Das „total durch­poli­tisierte Leben der mod­er­nen Gesellschaft“ nan­nte er eine „öffentliche Krankheit“ und ver­sprach „sich von der Ent­poli­tisierung eine Ent­gif­tung der Atmo­sphäre“.

Holthusen, der zus­tim­mend die Ein­schätzung Ernst Jüngers zitierte, von ein­er Nieder­lage wie der deutschen im Jahr 1945 erhole ein Volk sich nicht mehr, etablierte sich prag­ma­tisch im Lit­er­aturbe­trieb. Seine einst vehe­mente Kri­tik an Thomas Mann klang im Unbe­hausten Men­schen schon wesentlich ver­hal­tener, und in der drit­ten, 1955 erschiene­nen Auflage, zeigt er viel Ver­ständ­nis für Werke der zeit­genös­sis­chen Lit­er­atur, welche die deutsche Geschichte gle­ich­falls skan­dal­isierten. Gast­pro­fes­suren führten ihn an mehrere amerikanis­che Uni­ver­sitäten, von 1961 bis 1964 leit­ete er das Goethe­haus in New York. Er war von 1968 bis 1974 Präsi­dent der Bay­erischen Akademie der Schö­nen Kün­ste in München.

Sein öffentlich­er Ein­fluß aber ging zurück. Zum Prob­lem wurde ihm seine Mit­glied­schaft in der SS. 1960 weigerte sich die jüdis­che Lyrik­erin Masha Kaleko, den Fontane-Preis aus der Hand Holthusens, der die Lit­er­at­urabteilung der Berlin­er Akademie der Kün­ste leit­ete, ent­ge­gen­zunehmen. Die Poli­tisierung der Schrift­steller, die sich in den 1960er Jahren ver­stärk­te, ver­störte ihn. 1983 ver­ließ er die Berlin­er Akademie, als sie unter ihrem Präsi­den­ten Gün­ter Grass unmit­tel­bar in die Debat­te um die Atom­rüs­tung ein­griff. In der Auseinan­der­set­zung um Paul Celan („Immer wenn Paul Celan zur Debat­te ste­ht, pflegt der deutsche Kri­tik­er ein Gesicht zu machen wie ein Meß­di­ener vor dem Altar.“) wur­den Holthusens ästhetis­che Ein­wände mit poli­tis­chen Argu­menten beant­wortet. Zwar schätzte er Celans „Todesfuge“ hoch ein, kri­tisierte 1964 aber dessen „Vor­liebe für die in sur­re­al­is­tis­chen X‑Beliebigkeiten schwel­gen­den Gen­i­tiv-Meta­phern“. Der  Lit­er­atur­wis­senschaftler Peter Szon­di antwortete, daß Holthusen „die Erin­nerung an das, was gewe­sen ist, durch den Vor­wurf der Beliebigkeit zu vere­it­eln“ tra­chte. Er paßte immer weniger in die verän­derte Zeit. Als er am 21. Jan­u­ar 1997 in München starb, war es längst ruhig um ihn gewor­den.

Im Zuge ein­er His­torisierung der deutschen Nachkriegslit­er­atur dürfte sich für Holthusens Essay­is­tik die Möglichkeit der Wieder­ent­deck­ung eröff­nen. Spuren sein­er Thomas-Mann-Kri­tik sind im Werk des Biele­felder Lit­er­atur­wis­senschaftlers und langjähri­gen „Merkur“-Herausgebers Karl Heinz Bohrer nach­weis­bar, ohne daß dieser auf sie aufmerk­sam gemacht hat.

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Zitat:

Nicht nur, daß sich der mod­erne Men­sch von den alten geisti­gen Ord­nun­gen los­gemacht hat: er hat auch das Sys­tem der bürg­er­lichen Gesellschaft zertrüm­mert und ihr Welt- und Lebens­ge­fühl abgeschüt­telt, ja er scheint das Kostüm des Kul­tur­men­schen über­haupt abge­wor­fen zu haben oder im Begriff zu sein es zu tun.

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Schriften:

  • Rilkes „Son­nette an Orpheus“, München 1937
  • Klage um den Brud­er. Sonette, Ham­burg 1947
  • Hier in der Zeit. Gedichte, München 1949
  • Die Welt ohne Tran­szen­denz. Eine Studie zu Thomas Manns „Dr. Faus­tus“ und seinen Neben­schriften, Ham­burg 1949
  • Der unbe­hauste Men­sch. Motive und Prob­leme der mod­er­nen Lit­er­atur, München 1951 (3. erw. Auflage 1955)
  • Labyrinthis­che Jahre. Neue Gedichte, München 1952
  • Ja und Nein. Neue kri­tis­che Ver­suche, München 1954
  • Das Schiff. Aufze­ich­nun­gen eines Pas­sagiers, München 1956
  • Frei­willig zur SS, in: Merkur 1966, Heft 223 und 224
  • Amerikan­er und Deutsche: Dia­log zweier Kul­turen. Erw. Fas­sung eines Vor­trags, München 1977
  • Sartre in Stammheim: 2 The­men aus den Jahren der großen Tur­bu­lenz, Stuttgart 1982
  • Opus 19. Reden und Widerre­den aus 25 Jahren, München/ Zürich 1983

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Lit­er­atur:

  • Han­na Klessinger: Beken­nt­nis zur Lyrik. Hans Egon Holthusen, Karl Krolow, Heinz Pio­ntek und die Lit­er­atur­poli­tik der Zeitschrift Merkur in den Jahren 1947 bis 1956, Göt­tin­gen 2011
  • Mechthild Raabe: Hans Egon Holthusen. Bib­li­ogra­phie 1931–1992, Hildesheim 2000
  • John Joseph Rock: Toward Ori­en­ta­tion. The Life and Work of Hans Egon Holthusen, phil. Diss. Penn­syl­va­nia State Uni­ver­si­ty 1980