Freyer, Hans, Sozialphilosoph, 1887–1969

Bis etwa 1970 noch war es gang und gäbe, daß man sich zur Kennze­ich­nung der Zeit­lage auf Frey­ers zivil­i­sa­tion­skri­tis­che Nachkriegss­chriften berief. Heute eröffnet sein mehrtausend­seit­iges sozial­philosophis­ches Opus nur noch einem kleinen Leserkreis einen wort­ge­walti­gen Zugang zur mod­er­nen Geschichte Deutsch­lands im europäis­chen Rah­men.

Frey­er, am 31. Juli 1887 in Leipzig geboren, schloß dort sein philosophis­ches Studi­um 1911 mit der Pro­mo­tion ab. Aus den Umbrüchen des Jahrhun­dert­be­ginns erwuchs ihm sein kon­sti­tu­tives his­torisches Grund­prob­lem, das er in eine Denk­fig­ur des deutschen Ide­al­is­mus faßte: Sub­jek­tiv­er und objek­tiv­er Geist lassen sich mit der Her­aufkun­ft der Indus­triege­sellschaft, ein­er Zäsur von glob­aler Dimen­sion, nicht mehr lebendig-schöpferisch ver­mit­teln.

Die intellek­tuelle Bewäl­ti­gung ihrer gebroch­enen Beziehung bildet die durchge­hende Lin­ie von Frey­ers Schaf­fen. Mit den Erfahrun­gen von Jugend­be­we­gung und Weltkrieg unter­nahm er die ersten Klärun­gen in Kat­e­gorien der Lebens- und Exis­ten­zphiloso­phie. Ihrer erkan­nten Unzulänglichkeit fol­gten method­ol­o­gis­che Über­legun­gen par­al­lel zu sein­er akademis­chen Kar­riere (1921 habil­i­tiert, 1922 Pro­fes­sor der Philoso­phie in Kiel, 1925 Inhab­er des ersten auss­chließlich der Sozi­olo­gie gewid­me­ten Lehrstuhls in Deutsch­land an der Uni­ver­sität Leipzig): Frey­er wollte nun­mehr der neuar­ti­gen sozialgeschichtlichen Real­ität gerechter wer­den mit sein­er Forderung nach »his­torisch gesät­tigten« Begrif­f­en und nach »Ethoswis­senschaft«, das heißt, Sozial­wis­senschaft sollte selb­st ein inte­graler Bestandteil der his­torischen Bewe­gung sein, deren Wil­len­srich­tung zugle­ich erhel­lend und aktivierend, mit anderen Worten, poli­tisch.

Er löste dies Ver­sprechen ein in ein­er Rei­he kleiner­er, aber pub­liz­itätswirk­samer Arbeit­en zwis­chen 1925 und 1935, heute meist ret­ro­spek­tiv fehlgedeutet. Für Frey­er stellte sich die Auf­gabe sein­erzeit so dar: Wie ist es möglich, die lebens­feindliche, eigen­dy­namis­che Macht der tech­nis­chen und wirtschaftlichen Super­struk­turen zurück­zu­ver­wan­deln in Mit­tel authen­tis­ch­er Lebens­führung, ohne in die gescheit­erten Mod­elle des 19. Jahrhun­derts zu ver­fall­en?

Hier bringt Frey­er das »Volk« als neues rev­o­lu­tionäres Sub­jekt ins Spiel. Es unter­stellt sich – in sein­er Vision, muß man wohl sagen – die neuen titanis­chen Seins­mächte, indem es sie als Aus­druck der eige­nen geschichtlichen Exis­tenz wie eine ethis­che Verpflich­tung entschlossen bejaht, ergreift und zur »Rüs­tung ein­er neuen Men­schlichkeit« umbaut. Das Volk ist hier kein biol­o­gis­ch­er oder kul­tureller Ter­mi­nus, »Volk« beze­ich­net eine Schick­sals- und Wil­lens­ge­mein­schaft, deren Energie sich zwar aus ihrer Ver­gan­gen­heit speist, deren zukün­ftige Gestalt dage­gen erst im hero­is­chen Rin­gen mit dem kairos des geschichtlichen Augen­blicks zutage tritt.

Maßge­blich­er Fak­tor der For­mge­bung ist das poli­tis­che Führungsper­son­al, das aus dem Volk her­vorge­ht und im Ein­klang mit ihm bleibt, die his­torisch notwendi­gen Pla­nungss­chritte vol­lzieht und so »das Reich« ver­wirk­licht. Damit wären die mod­er­nen gesellschaftlichen Defek­te und Defizite in gemein­schaftliche Sin­nge­bung über­führt und, ohne sie als solche zu leug­nen oder zu beseit­i­gen, ihre sozial zer­reißen­den Qual­itäten aufge­hoben.

Unter dem Ein­druck der Entwick­lun­gen nach 1933 blieb diese Prophetie »von rechts« nicht unko­r­rigiert. Wir sehen, wie Frey­er – der anfänglich dur­chaus Sym­pa­thien für die nation­al­sozial­is­tis­che Machter­grei­fung hegte, ohne je Parteim­it­glied gewe­sen zu sein – in der Folge auf vor­sichtige Dis­tanz ging, zum Konzept wie zum poli­tis­chen Sys­tem. Als Pro­fes­sor für Poli­tis­che Wis­senschaft, der er seit 1933 in Leipzig war, wirk­te er von 1938 bis 1944 über­wiegend in Budapest als Direk­tor des Deutschen Insti­tuts.

Während der Weltkriegs­jahre schrieb er seine umfan­gre­iche Welt­geschichte Europas, deren Gang er von Momenten »verbindlich­er Entschei­dung« her gliedert. Ihre Ein­heit vol­lende sich durch die uni­ver­sale Indus­tri­al­isierung. Im Erschei­n­ungs­jahr 1948 siedelte er nach Wies­baden über, als sich seine Posi­tion in Leipzig nicht mehr hal­ten ließ. Bis 1952 redigierte er die ersten Bände der großen Brock­haus-Enzyk­lopädie, und nach zwis­chen­zeitlichen Gast­pro­fes­suren wurde er, obwohl schon emer­i­tiert, 1955 zum Ordi­nar­ius für Philoso­phie an der Uni­ver­sität Mün­ster berufen.

1963 been­dete er seine akademis­che Lauf­bahn. Sein Alter­swerk klingt wie ein melan­cholis­ch­er Abge­sang auf alle vor­dem erhofften und erdacht­en poli­tis­chen Heilmit­tel der mit den Umwälzun­gen des 19. Jahrhun­derts ent­stande­nen Risse. Die mit der Mod­ernisierung ein­herge­hen­den Sin­nver­luste und Ent­frem­dun­gen sind nicht mehr inner­halb der »sekundären Sys­teme« von Tech­nik und Wirtschaft abzu­gle­ichen. Ihre Autonomie ist abzule­sen in zunehmender Ratio­nal­isierung und Ökonomisierung, der Ver­füg­barkeit von Men­sch und Natur, im allver­bre­it­eten Glauben an die Mach­barkeit der Sachen.

Die Entschei­dungs- und Frei­heit­sräume reduziert Frey­er jet­zt auf die »Bewahrung des his­torischen Erbes« in über­schaubaren inter­ak­tiv­en Zusam­men­hän­gen, in dem allein Iden­titäts­find­ung noch möglich sei. Die Sub­stanz, die dem einzel­nen daraus zuwachse bzw. die er damit repro­duziere, wäre fak­tisch sog­ar eine »hal­tende Macht« des tech­nol­o­gisch-indus­triellen Gefüges.

Frey­er starb am 18. Jan­u­ar 1969 im badis­chen Eber­stein­burg.

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Zitat:

Nur wenn sich aus dem Erbe der Geschichte Kräfte erschließen lassen, hart genug, um ihm gewach­sen zu sein, gelöst genug, um sich ihm einzu­flößen, wird sich das sekundäre Sys­tem als ein Jahres­ring, durch den hin­durch sie weit­erwach­sen wird, an die Geschichte der Men­schheit anle­gen.

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Schriften

  • Antäus. Grundle­gung ein­er Ethik des bewußten Lebens, Jena 1922
  • The­o­rie des objek­tiv­en Geistes. Eine Ein­leitung in die Kul­tur­philoso­phie, Leipzig 1923
  • Sozi­olo­gie als Wirk­lichkeitswis­senschaft, Leipzig 1930
  • Rev­o­lu­tion von rechts, Jena 1931
  • Machi­avel­li, Leipzig 1938
  • Welt­geschichte Europas, Wies­baden 1948
  • The­o­rie des gegen­wär­ti­gen Zeital­ters, Stuttgart 1955
  • Preußen­tum und Aufk­lärung. Und andere Stu­di­en zu Ethik und Poli­tik, neu hrsg. v. E. Üner, Wein­heim 1986
  • Herrschaft, Pla­nung und Tech­nik. Auf­sätze zur poli­tis­chen Sozi­olo­gie, hrsg. v. E. Üner, Wein­heim 1987 (darin auch Schriften­verze­ich­nis)

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Lit­er­atur

  • Jer­ry Z. Muller: The Oth­er God that Failed. Hans Frey­er and the Derad­i­cal­iza­tion of Ger­man Con­ser­v­a­tivism, Prince­ton 1987
  • Rolf Peter Siefer­le: Die Kon­ser­v­a­tive Rev­o­lu­tion. Fünf biographis­che Skizzen, Frank­furt a. M. 1995
  • Elfriede Üner: Sozi­olo­gie als »geistige Bewe­gung«. Hans Frey­ers Sys­tem der Sozi­olo­gie und die »Leipziger Schule«, Wein­heim 1992