Sedlmayr ist bekannt geworden durch seine luziden Werkinterpretationen und er war umstritten durch seine scharfen Polemiken gegen „Unkunst und Antikunst“. Erstere ist Produkt des Versagens schöpferische Kräfte und in allen Kulturen zu finden, letztere ist die aggressive Wendung gegen den Geist der traditionellen Kunst und nur im Abendland, nicht in anderen Spätkulturen zu finden. Genau mit dieser Betrachtung von Kunst als Symptom, die freilich immer in der Gefahr ist auch große Kunst auf ihre Aussage als historische Quelle zu reduzieren, war er der letzte Kunsthistoriker bis heute, dessen Werk selbst geistesgeschichtlichen Rang hat. Er bezeichnet seine Darstellung bereits in der Einleitung von Verlust der Mitte als nicht kunsthistorisch, sondern kulturdiagnostisch im Sinne eines Pathologen. Unkunst entsteht in seiner Terminologie aus mangelnder Fähigkeit, Antikunst dagegen aus der bewussten Zerschlagung, als solche betrachtet Sedlmayr den Surrealismus der nur die Rückseite der Maschinisierung sei.
Sedlmayr wurde am 18. Janura 1896 in Hornstein geboren. Nach einem Studium der Architektur und Kunstgeschichte in Wien wurde er über den Barockarchitekten Johann Fischer vorn Erlach promoviert. Nach der Habilitation 1936 wurde er Ordinarius in Wien und begründete die Strukturanalyse in der Kunstgeschichte. 1945 wurde er als überzeugter Großdeutscher und aktiver Nationalsozialist zwangsemeritiert. Er schrieb zeitweise unter den Pseudonymen Hans Schwarz und Ernst Hermann vor allem in der katholischen Zeitschrifte Wort und Wahrheit und erhielt erst wieder 1951 einen Lehrstuhl (in München, ab 1965 in Salzburg), nachdem er sein bedeutendstes Werk über den Verlust der Mitte publiziert hatte.
Grundlegend wichtig ist Sedlmayrs Rückgriff auf Franz von Baaders Lehre von den drei Zeiten. Die uns geläufige Zeit (er nennt sie Scheinzeit), die eingespannt ist zwischen Zukunft (Sorge) und Vergangenheit (Schuld) ist für ihn die mittlere zwischen Ewigkeit — als dauernder Gegenwart zwischen den Polen Aufgabe und Erfüllung — und der höllischen Zeit, die nur eine Dimension, nämlich die Vergangenheit als „nicht mehr“ kennt (er nennt sie falsche Zeit). Eine Zeit, in der es keine Durchbrüche zur wahren Zeit durch Kunst, Mythos und Ritus mehr gibt, ist einerseits zwar zunächst Triumph der Scheinzeit, aber diese ändert dadurch ihren Charakter völlig, sie ist nicht mehr mittlere und damit verfällt sie zur höllischen Zeit hin.
Dabei sieht Sedlmayr die Naturentfremdung, ja den bewussten Impuls zur Emanzipation von Natur, als hauptverantwortlich für die Selbstzerstörung der Kultur. In dem Maß, in dem die moderne „Kunst“ sich dem Weltbild der Wissenschaft anbequemt und für sich selbst nur noch das Reich des Subjektiven reklamiert und das vormoderne Weltbild nicht bewahrt, muß sie notwendig verfallen. Insofern ist die Kantsche und Poppersche Dingontologie, wenn an Kunstakademien gelehrt, die Giftspritze, mit der der Kunst der Garaus gemacht wird.
Sedlmayr hat sich daher auch in der Naturschutzbewegung engagiert; er gehörte der „Gruppe Ökologie“ (u.a. Konrad Lorenz, Bernhard Grzimek, Herbert Gruhl) an und hat 1970 unter dem Titel Stadt ohne Landschaft. Salzburgs Schicksal von morgen? ein Büchlein publiziert, das exemplarisch an seiner Wahlheimat nach der Emeritierung in München den Verlust von Landschaft als Beziehungsraum darstellt.
Sedlmayr hält es jedoch für möglich, daß „auf die zunächst äußerliche technische Unifizierung des Planeten eine innerliche, geistig begründete folgen“ könne, beruhend auf „einer Reintegrierung des Menschen, auf der Rückkehr zu seiner Mitte“. Die Denkfigur dabei ist die Solowjews, daß, wie dem Erscheinen Christi der Antichrist vorausgeht und der Affe dem Menschen, vielleicht auch die Maschinenherrschaft dem „Erscheinen einer geistigen und organischen Beherrschung der untermenschlichen Welt, einer Theurgie präludieren“ könnte. Interessant ist, daß Sedlmayr bereits 1955 auf einen heilsamen Zwang durch eine zur Umkehr zwingende Natur hofft.
Sedlmayrs Analysen könnten vor allem in der Richtung weitergeführt werden, daß die moderne Kunst wesentlich sekundäre Kunst ist, die mit Zitaten und Parodien spielt. Unabhängig von der Frage, ob sie mit dem unmittelbaren Bezug auf Erscheinendes nicht eben ihren Kunstcharakter verliert (und ob nicht auch die sekundären Religionen eher Auflösungsformen sind) ist die Frage zu stellen, was passiert wenn sich diese sekundäre naturvergessene Kunst nun auf die Natur zurückwendet, z.B. in die Landschaft baut. Ein weiteres Kennzeichen ist, daß sie sich nicht mehr in Werken, sondern eher in Programmen und Utopien ausdrückt. Was aber macht eine Tätigkeit des Menschen, die gar nicht mehr auf der Erde ankommen will, mit der Erde?
Hans Sedlmayr verstarb am 19. Juli 1984 in Salzburg.
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Zitat:
Ist am rationalistischen Extrem der modernen Kunst der Künstler zum Konstrukteur geworden, so am irrationalistischen Gegenpol zum Automaten.
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Schriften:
- Fischer von Erlach der Ältere, München 1925
- Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit, Salzburg 1948
- Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950
- Die Revolution der modernen Kunst, Hamburg 1955
- Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte, Hamburg 1958
- Der Tod des Lichtes. Übergangene Perspektiven zur modernen Kunst, Salzburg 1964
- Das goldenen Zeitalter. Eine Kindheit, München/Zürich 1986