Gollwitzer, Heinz, Historiker, 1917–1999

Goll­witzer, am 30. Jan­u­ar 1917 in Nürn­berg geboren, begann seine akademis­che Kar­riere unter den erschw­eren­den Umstän­den von Krieg und Nachkrieg. Nach ein­er Ver­wun­dung im Mil­itär­di­enst war er freigestellt wor­den und kon­nte sein Studi­um der Geschichte und Ger­man­is­tik in München aufnehmen, wo er 1944 pro­moviert wurde. 1950 fol­gte die Habil­i­ta­tion, 1957 die Beru­fung an die Uni­ver­sität Mün­ster, an der er bis zu sein­er Emer­i­tierung 1982 lehrte.

Obwohl Goll­witzer in die Rheinisch-West­fälis­che sowie die Bay­erische Akademie der Wis­senschaften aufgenom­men wurde und ein anerkan­nter Uni­ver­sität­slehrer war, zog er sich früh in eine Art innere Emi­gra­tion zurück. Dieser Entschluß war vor allem auf die Ver­här­tung der ide­ol­o­gis­chen Fron­ten in West­deutsch­land zurück­zuführen, mit der er sich seit Mitte der sechziger Jahre kon­fron­tiert sah. Als Goll­witzer 1964 für die His­torische Zeitschrift den Nachruf auf seinen Lehrer Karl-Alexan­der von Müller ver­faßte, dessen Engage­ment in der NS-Zeit er zwar nicht ver­schwieg, aber doch mit einem gewis­sen Ver­ständ­nis behan­delte, führte das zu mas­siv­en Angrif­f­en auf seine Per­son. Deren Wirkung ver­dank­te sich ein­er neuen Intol­er­anz, die damals die Uni­ver­sitäten zu erobern begann und in der Stu­den­ten­re­volte gipfelte.

Als Kon­ser­v­a­tiv­er sah Goll­witzer wed­er die Möglichkeit des Arrange­ments, noch wollte er die Hochschule ver­lassen, weil ihm die Arbeit als His­torik­er nach eige­nen Worten »Dasein­ser­fül­lung« war. Er hat die Entwick­lung vor und nach 19€™68 sehr aufmerk­sam beobachtet, neigte aber zu ein­er durch Tem­pera­ment und Selb­stver­ständ­nis als Wis­senschaftler bed­ingten poli­tis­chen Zurück­hal­tung. Das hat immer­hin dazu geführt, daß Goll­witzer seine Tätigkeit in Lehre und Forschung konzen­tri­ert fort­set­zen und sich neben der bay­erischen Lan­des­geschichte sowie der Frühen Neuzeit vor allem der Geschichte Deutsch­lands im 19. und 20. Jahrhun­dert sowie der Geschichte von Welt­poli­tik und inter­na­tionalen Beziehun­gen wid­men kon­nte.

Her­vorzuheben ist in dem Zusam­men­hang Goll­witzers Hauptwerk, die zweibändi­ge Geschichte des welt­poli­tis­chen Denkens (1972/1982), eine ver­gle­ichende Unter­suchung der Ansätze zur Deu­tung – und Bee­in­flus­sung – des glob­alen Staaten­sys­tems. Flankiert wurde diese meis­ter­hafte Arbeit von ein­er ganzen Rei­he detail­liert­er Unter­suchun­gen, deren Spek­trum von der Analyse des ersten inter­na­tionalen Schlag­worts – »die gelbe Gefahr« – bis zur Unter­suchung der Vorgeschichte ide­ol­o­gis­ch­er Block­bil­dung seit dem 19. Jahrhun­dert und zum Prob­lem der »inter­na­tionalen Parteigänger­schaft« reichte.

Dabei hat Goll­witzer in einem großen Auf­satz zu den Weltan­schau­ungs­fron­ten des Ersten Weltkriegs nicht nur auf die vergessene Sym­pa­thie für Deutsch­land seit­ens der Neu­tralen hingewiesen und die Dif­ferenz zwis­chen der aggres­siv­en ide­ol­o­gis­chen Konzep­tion der Entente und der defen­siv­en des Reich­es her­aus­gear­beit­et, son­dern auch erläutert, warum man »Sonderweg«-Thesen grund­sät­zlich mit Skep­sis betra­cht­en müsse, da sie ein umfassendes Bild der ide­ol­o­gis­chen Entwick­lung in den ver­schiede­nen Län­dern behin­derten. Es wun­dert insofern nicht, daß Goll­witzer ganz pointiert davon sprechen kon­nte, daß »eine deutsche geis­tes­geschichtliche Pri­or­ität … für keine der spez­i­fisch faschis­tis­chen Vorstel­lun­gen« festzustellen sei.

Ähn­lich über­raschend wie solche Inter­pre­ta­tio­nen dürften die Aus­führun­gen Goll­witzers zum poli­tis­chen Ger­man­is­mus sein, die unge­wohnte Sachver­halte in den Blick rück­ten, und die Erwä­gun­gen zur Bedeu­tung von Kampf­bün­den und Wehrver­bän­den in Öster­re­ich und Deutsch­land während der Zwis­chenkriegs­jahre. Im Grunde zeigen sich hier schon Über­schnei­dun­gen mit einem weit­eren Forschungs­ge­bi­et Goll­witzers: der kom­par­a­tiv­en Betra­ch­tung his­torisch­er Phänomene, die auch seine Aus­führun­gen zur Geschichte der »Welt­poli­tik« bes­timmte.

Goll­witzers Arbeit blieb nicht ohne öffentliche Anerken­nung, sein Buch über die Standesh­er­ren fand sog­ar den Beifall der modis­chen Sozialgeschichte, und sein let­ztes großes Werk, die Biogra­phie Lud­wigs I. von Bay­ern, wurde all­ge­mein gelobt. Er hat außer­dem eine Rei­he von Schülern herange­zo­gen, die – von ihm angeregt – wichtige Unter­suchun­gen vor allem zur Geistes- und Ide­olo­giegeschichte abge­faßt haben. Trotz­dem war seine Wirkung eine deut­lich begren­zte und har­rt vieles von dem, was er geschrieben hat, ein­er (Wieder-)Entdeckung.

Goll­witzer starb am 26.12.1999 in München.

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Zitat:

Man ken­nt nicht nur das augen­zwinkernde, geheime Ein­ver­ständ­nis zwis­chen den Mächti­gen an der Spitze feindlich­er Lager, son­dern auch den Vor­gang des Ler­nens vom Geg­n­er und der allmäh­lichen Angle­ichung feindlich­er Parteien. Schon aus der Block­bil­dung des 19.Jahrhunderts läßt sich nach­weisen, wie die Begriffe »Rechts« und »Links« fortwährend ihren Inhalt ändern.

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Schriften:

  • Europa­bild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geis­tes­geschichte des 18. und 19. Jahrhun­derts, München 1951
  • Die Standesh­er­ren. Die poli­tis­che und gesellschaftliche Stel­lung der Medi­atisierten 1815–1918, Stuttgart 1957
  • Die gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlag­worts, Göt­tin­gen 1962
  • Geschichte des welt­poli­tis­chen Denkens, 2 Bde., Göt­tin­gen 1972/82
  • Lud­wig I. von Bay­ern. König­tum im Vor­märz, München 1986
  • Ein Staats­mann des Vor­märz: Karl von Abel, 1788–1859, Göt­tin­gen 1993
  • Kul­tur – Kon­fes­sion – Region­al­is­mus. Gesam­melte Auf­sätze (hrsg. v. Hans-Christof Kraus), Berlin 2008
  • Welt­poli­tik und deutsche Geschichte. Gesam­melte Stu­di­en (hrsg. v. Hans-Christof Kraus), Göt­tin­gen 2008

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Lit­er­atur:

  • Heinz Dollinger et al. (Hrsg.): Welt­poli­tik, Europagedanke, Region­al­is­mus. Festschrift für Heinz Goll­witzer zum 65. Geburt­stag, Mün­ster 1982
  • Hans-Christof Kraus: Nekrolog Heinz Goll­witzer 1917–1999, in: His­torische Zeitschrift 271 (2000)