Kolberg — Pommern

Fünf mächtige Kirchen­schiffe über­wölbt das Dach des Kol­berg­er Doms. Der Dop­pel­turm, der nachträglich zu ein­er geschlosse­nen Fas­sade ver­schmolzen wurde, ver­stärkt seine mon­u­men­tale Wirkung. Zehn Minuten Fußweg ent­fer­nt, in der Gier­czak­straße 5, ste­ht das älteste erhal­tene Wohn­haus Kol­bergs, ein nord­deutsch­er Back­stein­bau aus dem 15. Jahrhun­dert. Er hat einen nach hin­ten ver­set­zten Anbau, wie er in den 1970er Jahren auch im West­en als schick und mod­ern galt. Hier befind­et sich das Mil­itär­mu­se­um, wo das Helden­lied der 1. Pol­nis­chen Armee gesun­gen wird, die den Weg von Rjasan östlich Moskaus nach Kol­berg und dann nach Berlin genom­men hat. Auf riesi­gen Ölschinken im Stil des sozial­is­tis­chen Real­is­mus wer­den die Kämpfe am »Pom­mern­wall« – in Wahrheit jäm­mer­liche, von Frauen, Jugendlichen und Invali­den aus­ge­hobene Panz­er­gräben – und die Schlacht um die ange­bliche »Fes­tung Kol­berg« im März 1945 dargestellt.

Die Hafen­stadt Kol­berg, gele­gen an der Ost­see und dem Flüßchen Per­sante, zählte 1939 rund 35 000 Ein­wohn­er. Zwar war es eine alte Gar­nison­stadt mit »zehn Sol­dat­en auf ein Mäd­chen«, wie es hieß, doch eine »Fes­tung Kol­berg« hat es 1945 nicht gegeben. Wie denn auch? Die flache Küsten­land­schaft bietet kein­er­lei natür­lichen Schutz gegen Panz­er und Artillerie, und die Fes­tungswerke waren bere­its 1873 geschleift wor­den. Die Stadt besaß keine mil­itärischen Anla­gen, die für einen mod­er­nen Krieg von Bedeu­tung sein kon­nten. Im Novem­ber 1944 war Kol­berg lediglich zum »Fes­ten Platz« erk­lärt wor­den, wo indessen Fes­tungs­ge­set­ze gal­ten. Von den befohle­nen drei Vertei­di­gungsrin­gen kon­nte nur der innere, der am Stad­trand ent­langführte, not­dürftig aus­ge­baut wer­den. Noch wenige Monate zuvor war Kol­berg als son­nen­re­ich­stes deutsches Ost­see­bad und beliebter Kurort von Bedeu­tung gewe­sen. Wer aus dem bomben­z­er­störten West­deutsch­land hier­her kam, dem erschienen die weißen Bet­ten, die intak­ten Warmwasser­leitun­gen und der bis in den August 1944 anhal­tende Kurbe­trieb mit Konz­erten und The­at­er­auf­führun­gen beina­he märchen­haft.

Um Kol­berg rank­te sich eine Helden­saga, in der mehrere Ereignisse zusam­men­flossen: 1631 hat­te die Stadt ein­er schwedis­chen Belagerung fünf Monate lang standge­hal­ten. Im Sieben­jähri­gen Krieg (žžLeuthen) trotzte sie erst den Russen und dann einem schwedisch-rus­sis­chen Angriff, der sowohl von der See als auch von der Land­seite geführt wurde. Erst im Dezem­ber 1761 ergab sie sich ein­er erneuten, vier­monati­gen Belagerung durch das rus­sis­che Heer. Das Herzstück der Leg­ende wurde während der napoleonis­chen Kriege geboren, als Kol­berg, ange­führt durch Ober­stleut­nant Gneise­nau und Bürg­er­repräsen­tant Net­tel­beck, vom März 1807 bis zum Friedenss­chluß von Memel am 2. Juli ein­er erdrück­enden franzö­sis­chen Über­ma­cht wider­stand.

Diese Leg­ende sollte im Zweit­en Weltkrieg wieder­belebt wer­den. Mit abnehmen­dem Kriegs­glück stieg der Bedarf an pro­pa­gan­dis­tisch ergiebi­gen Stof­fen, um die Moral an der Heimat­front zu fes­ti­gen. Das Bünd­nis zwis­chen Gneise­nau und Net­tel­beck, zwis­chen Mil­itär und Volk, eignete sich aus der Sicht Goebbels’€™ als Vor­bild für den total­en Krieg. 1943 gab er seinem Star-Regis­seur Veit Har­lan den offiziellen Auf­trag für einen »Kolberg«-Film, der erst am 30. Jan­u­ar 1945 in Berlin und der eingeschlosse­nen Atlantik­fes­tung La Rochelle uraufge­führt wer­den kon­nte. Eine
befeuernde Wirkung kon­nte er nach Lage der Dinge nicht mehr ent­fal­ten. In Kol­berg wurde er erst gar nicht mehr gezeigt. Im Herb­st 1944 war die Stadt zum Kriegs­ge­bi­et erk­lärt wor­den. An Net­tel­beck und Gneise­nau dachte da nie­mand mehr. Im Novem­ber und Dezem­ber 1944 wur­den Volkssturm-Ein­heit­en aufgestellt, im Jan­u­ar 1945 erre­icht­en die ersten Trecks die Stadt. Bis März wur­den 250 000 Flüchtlinge aus Ost­preußen durch Kol­berg geschleust. Sie wur­den not­dürftig ver­sorgt, verpflegt und per Schiff oder Eisen­bahn weit­er nach West­en geleit­et. Die Ein­wohn­erzahl stieg um mehr als das Dop­pelte, auf 85 000 an. Ende Jan­u­ar 1945 erre­ichte die rus­sis­che Front bei Fürsten­berg und Küstrin die Oder (žžOder­bruch, Seelow­er Höhen). Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Rote Armee sich nach Nor­den wen­den und Hin­ter­pom­mern, den langge­zo­ge­nen Land­streifen ent­lang der Ost­see, erobern würde.

Der Kom­man­dant, Oberst Fritz Full­riede, ein Rit­terkreuzträger, hat­te am 1. März den beschle­u­nigten Abtrans­port der Bevölkerung und der Flüchtlinge befohlen, doch die Kreisleitung zögerte aus Angst vor der Gauleitung die Evakuierung hin­aus. Die Stadtver­wal­tung wurde über die prekäre Front­lage im unklaren gelassen. Nur wenige Kol­berg­er wagten es, sich auf eigene Faust zu ent­fer­nen. Den Kol­berg­er Beamten war es noch am 3. März streng ver­boten abzureisen. An den Schulen wurde weit­er unter­richtet. Erst in der Nacht zum 4. März wurde der Räu­mungs­be­fehl
unterze­ich­net, doch jet­zt war es zu spät. Der rus­sis­che Angriff hat­te begonnen, der Ring um Kol­berg schloß sich unaufhalt­sam. Die Wege und Straßen waren durch Trecks und Autos ver­stopft. 22 Eisen­bahnzüge mit Flüchtlin­gen und Ver­wun­de­ten standen noch auf der Strecke zwis­chen Bel­gard und Kol­berg.

Am Abend des 4. März ließ die Kreisleitung durch Laut­sprech­er bekan­nt­geben daß die Stadt unter schw­eren Beschuß genom­men würde. Die Ein­wohn­er, vor allem Frauen und Kinder, soll­ten sich um 19 Uhr vor dem Haupt­bahn­hof ver­sam­meln, um am Strand zu Fuß in Rich­tung West­en geführt zu wer­den. Nur wenige Bewohn­er riskierten den Marsch, der chao­tisch ver­lief und unter Beschuß geri­et. Die meis­ten ver­bracht­en die Nacht in der Maikuh­le, ein­er Senke am west­lichen Strand, und kehrten am näch­sten Mor­gen zurück. Bis zum 10. März war ganz Hin­ter­pom­mern in rus­sis­ch­er Hand, nur Kol­berg bildete einen ein­samen Brück­enkopf. 70 000 Men­schen warteten auf den Schiff­s­trans­port nach Swinemünde, Rügen und Kiel.

Bis zum 4. März waren sog­ar die Tele­fon­verbindun­gen noch intakt, doch jet­zt endete der zivile Luxus. Das Wass­er wurde knapp, abends wurde die Gasver­sorgung, dann der Strom gekappt. Kom­man­dant Full­riede standen 3 300 Mann abgekämpfter, schlecht­be­waffneter Heer­e­strup­pen zur Ver­fü­gung. Panz­er und Artillerie waren kaum vorhan­den. Ironie der Geschichte: Als sich der Belagerungsring zu schließen begann, befan­den sich 800 Sol­dat­en der franzö­sis­chen Waf­fen-SS-Divi­sion »Charle­magne« in der Stadt. 300 von ihnen melde­ten sich spon­tan zur Vertei­di­gung
Kol­bergs, nur 50 über­lebten. Die geg­ner­ische Über­ma­cht war gewaltig: Sie bestand aus drei Divi­sio­nen der 1. Pol­nis­chen Armee unter Führung des Gen­er­als Stanis­law Poplaws­ki, der 272. Schützen­di­vi­sion der Roten Armee, ein­er Panzer­bri­gade, ein­er Artilleriebri­gade, einem Wer­fer­reg­i­ment mit »Stal­i­norgeln« und ver­schiede­nen Spezialein­heit­en. Ins­ge­samt 1 254 Geschütze und Granatwer­fer waren auf Kol­berg gerichtet.

Am 7. März, nach­mit­tags, traf ein Funkspruch aus dem Oberkom­man­do des Heeres (OKH) ein: Ver­suche, eine Aus­fall­straße nach West­en freizukämpfen, hät­ten zu unterbleiben. Statt dessen soll­ten die Abwehrkräfte zusam­menge­hal­ten wer­den, um den Trans­port über See zu sich­ern. Am sel­ben Tag begann der schwere Beschuß, am näch­sten Mor­gen bran­nte das Stadtthe­ater, dann der Dom. Der schw­er­ste Beschuß, der die Alt­stadt aus­löschte, set­zte am 9. März ein. Wehrma­cht und Marine leis­teten erbit­terte Gegen­wehr. Den Grund dafür glaubt ein deutsch­er Reise­führer von 1996 zu wis­sen: »Die seit den Frei­heit­skriegen in Deutsch­land leg­endäre, weil ange­blich niemals eroberte ‘Fes­tung Kolberg´wurde furcht­bar­er Schau­platz des bis zum ‘End­sieg´ ver­führten, wah­n­witzi­gen deutschen Durch­hal­tewil­lens.«

Die Wahrheit ist: Nie­mand glaubte mehr an den End­sieg! Es ging einzig und allein um Zeit­gewinn, damit die Ein­wohn­er und Flüchtlinge aus­geschifft wer­den kon­nten. Zweimal hat­ten die Russen Oberst Full­riede zur Kapit­u­la­tion aufge­fordert und den Sol­dat­en Leben und anständi­ge Behand­lung zugesichert, nicht aber den Zivilis­ten. Noch am 9. März legte der über­füllte Pas­sagier­dampfer »Win­rich von Kniprode« mit 4 000 Flüchtlin­gen ab, auch Kut­ter, Fähren, sog­ar Segel­boote kamen zum Ein­satz. Die Sit­u­a­tion im Hafen war unbeschreib­lich. Ver­schwommene Fotos zeigen panis­che Men­schen­trauben, im Hin­ter­grund lodern Brände. Das Wet­ter war oft stür­misch. Den­noch: Fast alle Flüchtlinge, und bis auf etwa 400 Mann auch die kämpfende Truppe, kon­nten sich über See abset­zen. Mit dem Abtrans­port der Frauen und Kinder und der unbe­waffneten Organ­i­sa­tio­nen war der OKH-Befehl erfüllt. Am 18. März kapit­ulierte die Stadt.

Ein­rück­ende pol­nis­che Sol­dat­en taucht­en die weiß-rote Fahne in die Fluten der Ost­see und legten den Eid ab: »Ich schwöre dir, pol­nis­ches Meer, daß ich, der Sol­dat der Heimat, der treue Sohn seines Volkes, dich nie ver­lassen werde.« Auf den Trüm­mern des preußisch-deutschen wurde ein pol­nis­ch­er Mythos gepflanzt. 1947 waren die let­zten Deutschen ver­trieben. Der 18. März wird in Kol‚obrzeg als »Tag der sym­bol­is­chen Ver­mäh­lung Polens mit der Ostsee«begangen. Vom alten Kol­berg find­en sich im heuti­gen Kol‚obrzeg nur noch Über­reste.

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Lit­er­atur:

  • Hans-Jür­gen Eit­ner: Kol­berg. Ein preußis­ch­er Mythos 1807/1945, Berlin 1999
  • Peter Jancke: Kol­berg. Führer durch eine unterge­gan­gene Stadt, Husum 2007
  • Her­mann Rie­mann: Geschichte der Stadt Kol­berg. Aus den Quellen dargestellt, Kol­berg 1924
  • Johannes Voelk­er: Die let­zten Tage von Kol­berg, Würzburg 1959