Kultur

Kul­tur ist ein Begriff, der gle­ichzeit­ig in einem deskrip­tiv­en und einem nor­ma­tiv­en Ver­ständ­nis gebraucht wird; häu­fig gehen bei­de Auf­fas­sun­gen durcheinan­der, was die Schärfe von Kul­tur­de­bat­ten erk­lärt.

Im deskrip­tiv­en Sinn ste­ht Kul­tur für jede spez­i­fisch men­schliche Leis­tung, die nicht auf »Natur«, also die biol­o­gis­che Ausstat­tung und das biol­o­gis­che Erbe des Men­schen, zurück­ge­führt wer­den kann. Kul­tur ist dann die Folge der »Son­der­stel­lung« (Max Schel­er) des homo sapi­ens, den ein Man­gel an Instink­ten und Kör­perkraft dazu zwang und den sein Intellekt dazu befähigte, eine »zweite Natur« zu schaf­fen, eben die Kul­tur, die mit ihren Insti­tu­tio­nen und ihrer Ide­olo­gie imstande ist, Umwelt- und Ver­hal­tenssicher­heit zu erre­ichen, die dem Men­schen son­st ver­sagt bliebe.

Im deskrip­tiv­en Ver­ständ­nis ist alles Kul­tur, was den genan­nten Kri­te­rien genügt, es gibt keine prinzip­iellen Unter­schiede zwis­chen Kopfjägern auf Neuguinea und Chi­na in der Zeit der Ming-Dynas­tie. Wenn die Anhänger des von dem Völk­erkundler Franz Boas entwick­el­ten »Kul­tur­rel­a­tivis­mus« daraus fol­gern, daß es auch keinen Wer­tun­ter­schied zwis­chen den ver­schiede­nen Kul­turen gebe, so ist dieser Stand­punkt allerd­ings nur sehr schw­er durchzuhal­ten. Das hat vor allem damit zu tun, daß Kul­tur­rel­a­tivis­mus von Boas und sein­er Schule immer mit der Annahme eines uni­ver­salen Wertekanons verknüpft wurde. Ein inner­er Wider­spruch, der von anderen – etwa den Ver­fechtern des »Ethno­plu­ral­is­mus« (Hen­ning Eich­berg) – ver­mieden wer­den kon­nte, die dann aber vor dem Prob­lem standen, ihre poli­tis­chen Vorstel­lun­gen, für die Macht­fra­gen eine Rolle spie­len mußten, mit der Idee eines schiedlich-friedlichen Nebeneinan­ders ver­schieden­er Kul­turen auszu­gle­ichen.

Wirk­lich überzeu­gend gelang das nicht, denn Neu­tral­ität in ein­er so wichti­gen wie der Kul­turfrage bleibt unmöglich. Insofern ist auch die heutige Kri­tik des »Eurozen­tris­mus« als »kul­tur­al­is­tisch« in erster Lin­ie ein modis­ches Phänomen, das man kaum ern­st­nehmen muß. Die fak­tis­che »Europäisierung der Welt« (Hans Frey­er) und die fak­tis­che Über­legen­heit der west­lichen Kul­tur zumin­d­est in tech­nis­ch­er Hin­sicht hat dazu geführt, daß die seit dem 18. Jahrhun­dert durchge­set­zte Bew­er­tungsskala, die an ober­ster Stelle mit der Hochkul­tur begin­nt, die über Arbeit­steilung, Machtzen­trale, feste Gebäude und Schrift ver­fügt, und bei den Prim­i­tiv­en endet, die niemals die Neolithis­che Rev­o­lu­tion vol­l­zo­gen, son­dern weit­er als Jäger und Samm­ler leben, nach wie vor in Gel­tung ist.

Neben dieser im Grunde all­ge­mein anerkan­nten Dif­feren­zierung von Kul­tur gibt es noch zwei andere, die in diesem Zusam­men­hang erwäh­nt wer­den müssen. Zuerst die im deutschen Sprachraum ver­bre­it­ete Schei­dung zwis­chen ein­er – vital­en – »Kul­tur« und ein­er – dekaden­ten – »Zivil­i­sa­tion«. Diese seit der Aufk­lärung, mit beson­derem Nach­druck aber im Kon­text der Deutschen Bewe­gung entwick­elte Denk­fig­ur trug dazu bei, Mod­elle ein­er organ­is­chen Entwick­lung von (Hoch-)Kulturen zu entwick­eln, die diese mit Lebe­we­sen ver­glichen, die geboren wer­den, erblühen und abster­ben. Oft spielte dabei der Gedanke mit, daß Kul­turen »fen­ster­lose Mon­aden« (Oswald Spen­gler) seien, also voll­ständig abgeschlossen und unfähig miteinan­der zu kom­mu­nizieren. Nach­dem diese Auf­fas­sung in der let­zten Nachkriegszeit wegen ihrer poli­tis­chen Imp­lika­tio­nen scharf zurück­gewiesen wurde, hat sie – und damit ist auf den zweit­en Aspekt ver­wiesen – angesichts des verän­derten Charak­ters der Großkon­flik­te am Ende des 20. Jahrhun­derts eine Renais­sance erfahren. Samuel Hunt­ing­tons These vom »clash of civ­i­liza­tions« – dem »Zusam­men­stoß der Kul­turen« – geht jeden­falls auch davon aus, daß Kul­turen Gesamt­sys­teme sind, die über eine Kerniden­tität ver­fü­gen, die im Falle wirk­lich­er oder einge­bilde­ter Bedro­hung zu außeror­dentlich­er Kampf­bere­itschaft führt.

Hunt­ing­ton hat damit gegen die opti­mistis­chen Erwartun­gen im Hin­blick auf die Glob­al­isierung und die naive Annahme, daß Kap­i­tal­is­mus und/oder Erziehung eine friedliche »mul­ti­kul­turelle« Welt erzeu­gen wür­den, wieder deut­lich gemacht, daß Kul­tur, geprägt durch »Ein­heit des Stils« (Friedrich Niet­zsche), ein nicht hin­terge­hbar­er poli­tis­ch­er und his­torisch­er Fak­tor ist.

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Zitate:

Kul­tur ist ihrem Wesen nach ein über Jahrhun­derte gehen­des Her­ausar­beit­en von hohen Gedanken und Entschei­dun­gen, aber auch ein Umgießen dieser Inhalte zu fes­ten For­men, so daß sie jet­zt, gle­ichgültig gegen die geringe Kapaz­ität der kleinen See­len, weit­erg­ere­icht wer­den kön­nen, um nicht nur die Zeit, son­dern auch die Men­schen zu über­ste­hen.
Arnold Gehlen

Zivil­i­sa­tion und Kul­tur sind nicht nur nicht ein und das­selbe, son­dern sie sind Gegen­sätze, sie bilden eine der vielfältig­sten Erschei­n­ungs­for­men des ewigen Welt­ge­gen­satzes und Wider­spieles von Geist und Natur. Nie­mand wird leug­nen, daß etwa Mexiko zur Zeit sein­er Ent­deck­ung Kul­tur besaß, aber nie­mand wird behaupten, daß es damals zivil­isiert war. Kul­tur ist offen­bar nicht das Gegen­teil von Bar­barei; sie ist vielmehr oft genug nur eine stil­volle Wild­heit, und zivil­isiert waren von allen Völk­ern des Alter­tums vielle­icht nur die Chi­ne­sen. Kul­tur ist Geschlossen­heit, Stil, Form, Hal­tung, Geschmack, ist irgen­deine gewisse geistige Organ­i­sa­tion der Welt …

Thomas Mann

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Lit­er­atur: