Lebendiges politisches Erbe — Russell Kirk, 1953

Der Kon­ser­vatismus gilt nach einem klas­sis­chen Wort John Stu­art Mills als die »dumme Partei« (the stu­pid par­ty). Eine nen­nenswerte geistig anspruchsvolle kon­ser­v­a­tive The­o­rie besitze er nicht. Den Gegen­be­weis trat Rus­sell Kirk mit sein­er Dis­ser­ta­tion, der ideengeschichtlichen Studie The Con­ser­v­a­tive Mind, an, das als eines der erfol­gre­ich­sten kon­ser­v­a­tiv­en Büch­er in den Vere­inigten Staat­en bis heute nachge­druckt wird. Die neg­a­tiv­en Auswirkun­gen des pro­gres­siv­en Denkens macht­en es notwendig, die Kon­ser­v­a­tiv­en erneut ernst zu nehmen, da sie die Män­gel der pro­gres­siv­en Weltan­schau­ung sehr scharf­sichtig analysiert und seziert hat­ten.

Kirk aktu­al­isierte die Grund­po­si­tio­nen Edmund Burkes, die dieser in der Auseinan­der­set­zung mit dem Ratio­nal­is­mus und der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion entwick­elt hat­te und die darauf basierte, das Alte und Bewährte gegen das Neue und Unbe­währte in Stel­lung zu brin­gen. Erst seit dem Erscheinen von Burkes Betra­ch­tun­gen über die Franzö­sis­che Rev­o­lu­tion (1790) gebe es einen bewußten Kon­ser­vatismus, dessen Prinzip­i­en von Burke und seinen Nach­fol­gern am rein­sten vertreten wor­den sei. Der Wert der Über­liefer­un­gen in ein­er Gesellschaft, die als Vor-Urteile und Vorschriften das Ver­hal­ten der Men­schen steuern, wurde von Burke gegen den rev­o­lu­tionären Nihilis­mus vertei­digt, um organ­is­che Entwick­lun­gen gegen die Pla­nung der Gesellschaft am Reißbrett zu set­zen.

Kirks Buch entriß zahlre­iche angloamerikanis­che kon­ser­v­a­tive und klas­sisch-lib­erale Denker vor allem des 19. Jahrhun­derts der Vergessen­heit und führte die Lin­ie der kon­ser­v­a­tiv­en Denker bis zu George San­tayana und T. S. Eliot her­auf, die in der Mitte des 20. Jahrhun­derts einige Wirkung ent­fal­teten. Kirks Bild des kon­ser­v­a­tiv­en Denkens ist weniger an politökonomis­chen Analy­sen ori­en­tiert und bezieht auch lit­er­arische For­men des Kon­ser­vatismus wie bei Sir Wal­ter Scott, S. T. Coleridge, J. F. Coop­er oder Nathaniel Hawthorne ein. Zu weit­eren Gewährsleuten sein­er Rekon­struk­tion des Kon­ser­vatismus zählen u.a. auch Alex­is de Toc­queville, Ben­jamin Dis­raeli, Orestes Brown­son, John Hen­ry New­man und Irv­ing Bab­bitt.

Nach Kirk ist der Kon­ser­vatismus kein star­res Sys­tem von Lehrmei­n­un­gen. Das Hauptziel des Kon­ser­vatismus beste­ht in der »Erhal­tung der ehrwürdi­gen, moralis­chen Über­liefer­un­gen der Men­schheit«. Die Kon­ser­v­a­tiv­en sieht er von Ehrfurcht vor der Weisheit ihrer Vor­fahren geleit­et. Diese Ori­en­tierung ver­sucht Kirk auch inhaltlich zu bes­tim­men, indem er sechs grundle­gende Regeln der kon­ser­v­a­tiv­en Weltan­schau­ung definiert:

1. Poli­tis­che Prob­leme haben einen religiös-moralis­chen Kern: die men­schliche Gesellschaft wie das Gewis­sen des einzel­nen sind von ein­er göt­tlichen Absicht gelenkt und einem natür­lichen Gesetz unter­wor­fen;

2. die Ablehnung von Gle­ich­macherei und Util­i­taris­mus und die Bejahung des uner­schöpflichen Reich­tums und des Geheimniss­es des Lebens;

3. die Überzeu­gung von der Notwendigkeit ein­er sozialen Ran­gord­nung und Klassen­struk­tur;

4. die Überzeu­gung von der engen Verbindung von Pri­vateigen­tum und Frei­heit;

5. das Ver­trauen auf das über­lieferte Recht und die Ablehnung der Sophis­terei sowie die Ein­sicht, daß die Tra­di­tion und das gesunde Vorurteil eine mäßi­gende Wirkung auf das rebel­lis­che Triebleben des Men­schen haben;

6. die Ein­sicht, »daß Verän­derung und Reform nicht das gle­iche sind, und daß Neuerun­gen weit häu­figer ein­er alles verzehren­den Feuers­brun­st gle­ichen als ein­er Fack­el des Fortschritts«. Verän­derun­gen der Gesellschaft soll­ten dage­gen nach Kirk im Ein­klang mit der göt­tlichen Vorse­hung vorgenom­men wer­den.

Kirks Wieder­bele­bung der poli­tis­chen Philoso­phie Edmund Burkes mit ihrer Kri­tik des Ratio­nal­is­mus der franzö­sis­chen »philosophes«, des roman­tis­chen Sen­ti­men­tal­is­mus Rousseaus und des Util­i­taris­mus Ben­thams stellt seine wohl größte Leis­tung dar. Wenn auch der Men­sch nach Kirk nicht ver­vol­lkomm­nungs­fähig ist, so beste­ht doch immer auch die Möglichkeit, eine kon­ser­v­a­tive Ord­nung zu etablieren, die nach ein­er etwaigen, von ungezügel­ten Begier­den und blin­dem Ehrgeiz her­beige­führten Katas­tro­phe »die versen­gten Über­reste der Zivil­i­sa­tion aus der Asche zu holen« hätte.

Kirks entsch­ieden anti-indi­vid­u­al­is­tis­che und tra­di­tion­al­is­tis­che Posi­tion wurde von stärk­er lib­ertär aus­gerichteten US-Kon­ser­v­a­tiv­en wie Frank Mey­er als kollek­tivis­tisch kri­tisiert, worin eine fortwirk­ende Span­nung inner­halb des kon­ser­v­a­tiv­en Lagers zum Aus­druck kam. Kirks geis­tes­geschichtlich­er Zugang zum Kon­ser­vatismus in The Con­ser­v­a­tive Mind war in der Nachkriegszeit sehr erfol­gre­ich; das Buch verkaufte sich über Erwarten gut und trug zum Auf­bau ein­er kon­ser­v­a­tiv­en Bewe­gung bei, die nicht länger als die »dumme Partei« gel­ten kon­nte, nach­dem Kirk gezeigt hat­te, daß es eine »Galax­is bril­lanter Geis­ter« des Kon­ser­vatismus gab (J. Hart).

– — –

Zitat:

Das Indi­vidu­um ist töricht, aber die Spezies ist weise.

– — –

Lit­er­atur:

  • Jef­frey Hart: The Mak­ing of the Amer­i­can Con­ser­v­a­tive Mind. Nation­al Review and Its Times, Wilm­ing­ton 2005
  • Rus­sell Kirk: The Sword of Imag­i­na­tion. Mem­oirs of a Half-Cen­tu­ry of Lit­er­ary Con­flict, Grand Rapids 1995
  • James E. Per­son: Rus­sell Kirk. A Crit­i­cal Biog­ra­phy of a Con­ser­v­a­tive Mind, Lan­ham 1999