Masse und Macht — Elias Cenetti, 1960

Das Hauptwerk des Lit­er­aturnobel­preisträgers Elias Canet­ti, eine kom­plexe Studie, ange­siedelt zwis­chen Dich­tung und Wis­senschaft, Psy­cholo­gie, Eth­nolo­gie und Mytholo­gie, gehört zu den bekan­ntesten und meist­disku­tierten Werken des 20. Jahrhun­derts. Zu kurz kam in den Debat­ten, daß Masse und Macht einen dur­chaus kon­ser­v­a­tiv­en Grundzug hat, der sich etwa in sein­er pes­simistis­chen Anthro­polo­gie, sein­er pro­fun­den Ide­olo­gie-Skep­sis und der Beto­nung der physisch-exis­ten­tiellen Fun­da­mente des Men­sch­seins zeigt. »Kaum ein­er wie er hat so radikal zu Ende gedacht, was die Härte der “Wirk­lichkeit” ist«, urteilte Armin Mohler über Canet­ti.

Dementsprechend begin­nt Masse und Macht mit der Beschrei­bung ein­er ein­fachen, aber grundle­gen­den Erfahrung: »Nichts fürchtet der Men­sch mehr als die Berührung durch das Unbekan­nte. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erken­nen oder zumin­d­est ein­rei­hen kön­nen. Über­all weicht der Men­sch der Berührung durch Fremdes aus. Nachts oder im Dunkel über­haupt kann der Schreck­en über eine uner­wartete Berührung sich ins Panis­che steigern. Nicht ein­mal die Klei­der gewähren einem Sicher­heit genug; wie leicht sind sie zu zer­reißen, wie leicht ist es, bis zum nack­ten, glat­ten, wehrlosen Fleisch des Ange­grif­f­e­nen durchzu­drin­gen.« In der Masse aber schlägt diese pro­funde Urangst des einzel­nen vor der Berührung und dem Ergrif­f­en­wer­den in ihr rauschhaftes Gegen­teil um. Dieses rät­sel­hafte, gefräßige, in ständi­ger dynamis­ch­er Ver­wand­lung begrif­f­ene Untier, das sich aus unzäh­li­gen Einzel­we­sen zusam­menset­zt – ein Phänomen, »nicht weniger ele­men­tar als Libido und Hunger« –, unter­zog Canet­ti ein­er kühlen, luzi­den Analyse. Die Masse erscheint als ein raum­greifend­es Gebilde, das ständig wächst, mitreißt, ansteckt, verdichtet, polar­isiert, das in eine Form gepreßt wird und dann wieder seine beschränk­enden For­men, ja alle For­men über­haupt zer­sprengt, das wie ein Fluß über seine Ufer tritt, zer­stört, niv­el­liert, über­schwemmt und egal­isiert, das sich auf seinem Höhep­unkt entlädt und jäh wieder zer­fällt.

Sie kann von einem Führer oder Dem­a­gogen aufges­tachelt und dirigiert wer­den, aber auch eine eigene ziel­gerichtete Schwarmintel­li­genz entwick­eln, sie kann als »Het­z­masse« im Pogrom, als »Flucht­masse« im Zus­tand der Panik, als »Ver­bots­masse« im Streik oder als »Umkehrungs­masse« in der Rev­o­lu­tion auf­tauchen. In ihrer Urform tritt sie als »Meute« bei der Jagd, im Krieg und der kollek­tiv­en Klage auf. Sie kann hand­fest real sein, wie auch im rein Imag­inären wirken als religiöse oder wahn­hafte Vorstel­lung von unsicht­baren Dämo­nen­scharen oder den Toten­heeren der Ahnen. Sie muß nicht ein­mal aus men­schlichen Wesen beste­hen: Auf der Ebene der Sym­bole erscheint sie im Bild des Waldes, des Korns, des Sandes, als Meer oder Feuer.

Das Ver­hält­nis der Masse zur Macht aber hat seine Wurzel im Bewußt­sein des Men­schen um seinen eige­nen Tod, in seinem Wis­sen darum, daß er andere Lebe­we­sen töten und sich ein­ver­leiben muß, um sein Über­leben zu sich­ern, und daß er sich sein­er­seits in ständi­ger Gefahr befind­et, getötet und ein­ver­leibt zu wer­den. Der Mächtige ist in seinem let­zten Kern immer der erfol­gre­iche Töter, und »der Augen­blick des Über­lebens ist der Augen­blick der Macht«. Die Ver­fü­gungs­ge­walt über Leben und Tod hat dem Men­schen immer wieder die eksta­tis­chen Glücks- und Macht­ge­füh­le eines Gottes ver­schafft. Sie ist also die Essenz der Macht schlechthin. Dies ist das düstere Arkanum, das die Sozi­etäten der Men­schen zusam­men­hält.

Um diese Dinge zu ver­an­schaulichen, griff Canet­ti vor allem auf eth­nol­o­gis­ches und psy­chi­a­trisches Mate­r­i­al sowie mythis­che Erzäh­lun­gen zurück, ver­wies dabei allerd­ings unmißver­ständlich auf Dis­po­si­tio­nen, die auch im ver­meintlich zivil­isierten Men­schen der Mod­erne latent schlum­mern und jed­erzeit auf furcht­bare Weise aus­brechen kön­nen. Es war zur Erschei­n­ungszeit des Buch­es nicht nötig, direkt über die noch frisch ins Gedächt­nis gebran­nten Schreck­en der total­itären Dik­taturen mit ihren kollek­tiv­en Hys­te­rien und Hex­en­jag­den, ihren Kriegen und Ver­nich­tungslagern zu sprechen: Auch sie waren im Grunde nichts Neues unter der Sonne, son­dern nur beson­ders entset­zliche, vom tech­nis­chen Zeital­ter gesteigerte Ema­na­tio­nen der in ihrer Tiefe unverän­der­lichen, prähis­torischen Seele des Men­schen, der Canet­ti mit dem Schild und Schw­ert sein­er Sprache gle­ich­sam als Stoik­er gegenüber­trat – freilich als ein­er, der die beschriebe­nen Phänomene am eige­nen Leibe, als aktiv­er Teil­nehmer eben­so wie als Opfer, erfahren hat­te.

Canet­tis denkerisch radikaler Ansatz bedeutete auch die Preis­gabe eines erhe­blichen the­o­retis­chen und begrif­flichen Bal­lasts, der sich seit Gus­tave Le Bon und Sig­mund Freud zum The­ma »Masse« ange­sam­melt hat­te. »Die übliche Ent­larver­pose ist ihm fremd«, schrieb Armin Mohler, »eben­so der moral­isierende Reduk­tion­is­mus«. Dies hat sich als eben­so frucht­bar erwiesen wie Canet­tis Entschei­dung, kein »aktuelles« – also etwa ein auf die Deu­tung des Nation­al­sozial­is­mus beschränk­tes –, son­dern ein zeit­los-uni­ver­sales Werk zu ver­fassen.

– — –

Zitat:

Der Tod als Dro­hung ist die Münze der Macht.

– — –

Aus­gabe:

  • Taschen­buch, Frank­furt a. M.: Fis­ch­er 1995

– — –

Lit­er­atur:

  • Karl Heinz Bohrer: Der Stoik­er und unsere prähis­torische Seele, in: Wort­masken. Texte zu Leben und Werk von Elias Canet­ti, München 1995