Bohrer, Karl Heinz, Publizist, 1932–2021

Karl Heinz Bohrer, geboren am 26. Sep­tem­ber 1932 in Köln, der kon­ser­v­a­tiv­en Intel­li­genz zuzurech­nen, ist eine heik­le Angele­gen­heit. Zwar wird er heute oft als Kon­ser­v­a­tiv­er apos­tro­phiert, aber die Indizien für eine solche Stan­dortzuschrei­bung sind doch nicht ein­deutig zu nen­nen. Immer­hin wird man sagen dür­fen, daß Bohrer immer ein Inter­esse an der intellek­tuellen Recht­en – all­ge­mein­er »der alt­bürg­er­lichen eben­so wie der aris­tokratis­chen Kul­tur in Deutsch­land« – hat­te, aber seine poli­tis­che Ori­en­tierung ver­lief eher in ein­er mäan­dern­den Bewe­gung.

In ein­er bürg­er­lichen Köl­ner Fam­i­lie aufgewach­sen, besuchte Bohrer eine Reform­schule und legte 1953 das Abitur ab. Es fol­gte ein Studi­um der Ger­man­is­tik, The­ater­wis­senschaft und Geschichte, später noch der Philoso­phie, an den Uni­ver­sitäten Köln und Göt­tin­gen. 1957 legte er das Erste Staat­sex­a­m­en ab und über­nahm eine Tätigkeit als Lek­tor für deutsche Sprache am Deutschen Zen­trum in Stock­holm. Dieser Aufen­thalt gab ihm Gele­gen­heit, Mate­r­i­al für seine Dis­ser­ta­tion zu sam­meln, die er 1961 unter dem Titel »Der Mythos vom Nor­den. Stu­di­en zur roman­tis­chen Geschicht­sprophetie« ein­re­ichte. In der Folge arbeit­ete Bohrer als Jour­nal­ist, zuerst für das Feuil­leton der Welt, seit 1968 als ver­ant­wortlich­er Redak­teur des Feuil­letons der FAZ.

In dieser Phase der Entwick­lung kon­nte Bohrer als aus­ge­sproch­en­er Link­er gel­ten. Jeden­falls bedi­ente er sich des zeit­genös­sis­chen Jar­gons und öffnete den Kul­turteil der Frank­furter All­ge­meinen weit für den pro­gres­siv­en Zeit­geist. Auf­grund eines Kon­flik­ts mit Mar­cel Reich-Ran­ic­ki ging er aber 1975 als Kor­re­spon­dent nach Lon­don. Die Art sein­er Berichter­stat­tung aus dem Großbri­tan­nien der Ära Thatch­er machte einen Sinneswan­del deut­lich, der wohl vor allem aus der Kon­traster­fahrung zu ver­ste­hen war. Vor allem die Poli­tik­ferne und Prov­inzial­ität
der Bun­desre­pub­lik ging Bohrer zunehmend auf die Ner­ven, der alberne Ver­such, die Welt mit dem »Ethos der Mainzelmän­nchen « zu verbessern. Seine Berichte aus dieser Zeit, vor allem während des Falk­land­kriegs, kon­nten dur­chaus als kon­ser­v­a­tive Kul­turkri­tik gele­sen wer­den.

Eine ein­deutige Zuord­nung ver­mied Bohrer aber. Eine Tak­tik, die auch an sein­er Habil­i­ta­tion­ss­chrift zu bemerken ist, deren Buchaus­gabe 1978 unter dem Titel Die Ästhetik des Schreck­ens. Die pes­simistis­che Roman­tik und Ernst Jüngers Früh­w­erk erschien. Man hat es ein­er­seits mit ein­er bestechen­den Analyse zu tun, die sich ohne erkennbaren Vor­be­halt einem damals ver­femten Autor zuwen­det, ander­er­seits mit einem Buch, das der Fasz­i­na­tion durch den behan­del­ten Gegen­stand nir­gends nachgibt.

Die Habil­i­ta­tion an der Fakultät für Lin­guis­tik und Lit­er­atur­wis­senschaft der Uni­ver­sität Biele­feld ermöglichte Bohrer, den Jour­nal­is­mus hin­ter sich zu lassen. 1982 über­nahm er den Lehrstuhl für neuere deutsche Lit­er­aturgeschichte in Biele­feld. Die aus dieser Posi­tion resul­tierende Unab­hängigkeit, seit 1984 ergänzt um die Stel­lung als Her­aus­ge­ber der ein­flußre­ichen Kul­turzeitschrift Merkur, erlaubte Bohrer in der Fol­gezeit, sich mit allen möglichen tabuisierten The­men zu beschäfti­gen: vom Mythos bis zur deutschen »Gegen­mod­erne «.

Zu ein­er schär­fer­en Frontstel­lung gegenüber dem Main­stream kam es allerd­ings erst unter dem Ein­druck der Vere­ini­gung der deutschen Rest­staat­en. Bohrer gehörte Anfang der neun­ziger Jahre zu den ganz weni­gen deutschen Intellek­tuellen, die die Ein­heit nicht nur begrüßten, son­dern auf die Möglichkeit der Wieder­anknüp­fung an die spez­i­fis­chen nationalen Geis­testra­di­tio­nen hofften. Seine Stel­lung­nah­men sei­ther – von der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung bis zum »neuen Bürg­er­tum« – erlauben es tat­säch­lich, ihn als einen der wichti­gen Sprech­er des zeit­genös­sis­chen Kon­ser­vatismus zu betra­cht­en.

Bohrer starb am 4. August 2021 in Lon­don.

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Zitat:

Jour­nal­is­ten, lib­er­al, wie sie mehrheitlich sind, haben die händ­lerische Ver­nun­ft mit Löf­feln gegessen. Oppor­tunis­tisch und voyeuris­tisch ver­ste­hen sie nicht die Sym­bole des Ern­st­falls. Let­ztlich Unbeteiligte, ver­wan­deln sie den Ern­st­fall immer in einen Ver­hand­lungs­fall und diesen dann in einen moralis­chmod­er­nen Vor­wurf gegen solche, die den Ern­st­fall begrif­f­en und akzep­tiert haben …

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Schriften:

  • Die gefährdete Phan­tasie oder Sur­re­al­is­mus und Ter­ror, München 1970
  • Die Ästhetik des Schreck­ens. Die pes­simistis­che Roman­tik und Ernst Jüngers Früh­w­erk, München 1978
  • Ein bißchen Lust am Unter­gang. Englis­che Ansicht­en, München 1979
  • Nach der Natur. Über Poli­tik und Ästhetik, München 1988
  • Prov­inzial­is­mus. Ein phys­iog­nomis­ches Panora­ma, München 2000
  • Imag­i­na­tio­nen des Bösen. Zur Begrün­dung ein­er ästhetis­chen Kat­e­gorie, München 2004
  • Großer Stil. Form und Form­losigkeit in der Mod­erne, München 2007
  • Das Tragis­che. Erschei­n­ung, Pathos, Klage, München 2009