München – Schwabing

Wo Wertvorstel­lun­gen ins Wanken und dadurch Zeital­ter in Bewe­gung ger­at­en, entste­hen Zen­tren, in denen sich die Triebkräfte solch­er Prozesse sam­meln. Es sind die Inspiri­erten und die Suchen­den, aus allen Teilen des Lan­des kom­mend, die Aben­teur­ern gle­ich, unbekan­ntes Ter­rain erschließen wollen und dabei die Karten im großen Welt­spiel der Lebensen­twürfe neu zu mis­chen begin­nen.

Ein solch­es Zen­trum bildete um 1900 der damals noch über­schaubare Münch­n­er Vorort Schwabing, die wohl am ergiebig­sten sprudel­nde Quelle der deutschen Kul­tur im soge­nan­nten Fin de sié­cle. München »leuchtete« in jenen Jahren nicht nur, wie Thomas Mann metapho­risch bemerk­te, der sich eben­falls aufgemacht hat­te, »um mit son­der­bar­er Sor­glosigkeit das Wag­nis eines Kün­stler­lebens einzuge­hen«, son­dern München wuchs, und zwar in einem nie gekan­nten Aus­maß: Zählte die Stadt um 1850 noch 100 000 Ein­wohn­er, so stieg die Zahl um 1880 auf 230 000 und im Jahr 1900 auf fast 500 000 an. Ein Wach­s­tum, das zum über­wiegen­den Teil aus Zuwan­derung resul­tierte. Und so bestand die berühmte Boheme, die München »leucht­en« ließ, fast durch­weg aus Neu-Münch­n­ern, zumeist protes­tantis­chen Preußen.

Die Geschichte ken­nt nur wenige Momente, in denen sich so viele und zugle­ich höchst unter­schiedlich aus­gerichtete Tal­ente der Kun­st und des Geistes an einem einzi­gen Ort zusam­men­fan­den. Dadurch trafen die divergierend­sten Welt­bilder und Stil­rich­tun­gen aufeinan­der, die sich damals noch ganz frei von zivilge­sellschaftlich­er Selb­stzen­sur ent­fal­ten kon­nten. Den­noch litt freilich auch die Münch­n­er Boheme unter Zen­sur, die allerd­ings auss­chließlich vom Staat aus­ging und sich zumeist nur dann ein­schal­tete, nach­dem Staat oder Kirche absichtsvoll gereizt wor­den waren, wodurch der Pro­voka­teur einen Skan­dal anregte und mit erhöhter Aufmerk­samkeit rech­nen durfte. So wurde Oskar Paniz­za wegen der Veröf­fentlichung seines berühmt-berüchtigten, antikatholis­chen Schaus­piels Das Liebeskonzil 1895 zu einem Jahr Gefäng­nis verurteilt – die mit Abstand höch­ste jemals im Kaiser­re­ich ver­hängte Strafe wegen eines Mei­n­ungs­de­lik­ts –, und auch Frank Wedekind oder der Karika­tur­ist Thomas Theodor Heine büßten ihre »Majestäts­belei­di­gung« mit hal­b­jähriger Fes­tung­shaft. Damit waren die Autoren aber keineswegs sozial oder kün­st­lerisch erledigt, son­dern gehörten weit­er­hin oder jet­zt erst recht zur kul­turellen Avant­garde, selb­st wenn sie aus der Haft gebrochen her­vorgin­gen wie der hochsen­si­ble Paniz­za.

Eine solche Vielfalt der Denkrich­tun­gen und indi­vidu­ellen Charak­tere wurde in Deutsch­land später nie wieder erre­icht – und auch nie wieder geduldet. Schwabing war damals ein Biotop des freien Denkens, eine Werk­statt der exper­i­mentellen wie der reak­tionären Kun­st, wobei die Gren­zen zwis­chen den kon­trären Visio­nen oft fließend waren. Man beze­ich­nete den Ort als die große »Kun­st­fab­rik des Reich­es«, in der nicht nur bere­its um 1890 über 3 000 Maler und Bild­hauer, son­dern kaum weniger Lit­er­at­en, Philosophen, Leben­sre­former oder Sozial-Utopis­ten ihrem oft sehr eigen­willi­gen Schaf­fen nachgin­gen. Darunter so illus­tre Namen wie: Ste­fan George, Erich Müh­sam, Wass­i­ly Kandin­sky, Paul Klee, Franz Marc, Alfred Kubin, Franz von Stuck, Chris­t­ian Mor­gen­stern, Joachim Ringel­natz, Michael Georg Con­rad, Franziska zu Revent­low, Marya Del­vard, Albert Lan­gen, Lud­wig Thoma, Karl Wil­helm Diefen­bach oder Gus­tav Gräs­er.

Natür­lich Thomas Mann, und später, ab 1915, auch Rain­er Maria Rilke, oder, ab 1911, Oswald Spen­gler, nach­dem dieser bere­its 1901 in München studiert hat­te. Daneben wur­den dort zahlre­iche Ver­lage und bedeu­tende Zeitschriften gegrün­det wie der Sim­pli­cis­simus oder die Jugend, die dem Jugend­stil seinen Namen gab. In ihrem 1913 erschiene­nen Roman Her­rn Dames Aufze­ich­nun­gen oder Begeben­heit­en aus einem merk­würdi­gen Stadt­teil prägte Franziska zu Revent­low die Beze­ich­nung »Wah­n­moching« für Schwabing und entza­uberte damit gle­ich­sam den leg­endären Ort, indem sie das oft Deko­ra­tiv-Aufge­set­zte bis Grotesk-Lächer­liche beson­ders des George-Kreis­es karikierte.

Denn »Wah­n­moching« sei eigentlich gar kein Stadt­teil, son­dern ein Zus­tand, ein Lebens­ge­fühlt: »Wah­n­moching ist eine geistige Bewe­gung, ein Niveau, eine Rich­tung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Ver­such, aus ural­ten Kul­ten wieder neue religiöse Möglichkeit­en zu gewin­nen.« Als der Roman erschien, gin­gen die »gold­e­nen Jahre« dieses Zus­tandes ger­ade zu Ende, und manche schwel­gten bere­its in Erin­nerun­gen an die ver­gan­gene Größe jen­er Zeit. So beklagte sich Oswald Spen­gler über das sein­er Mei­n­ung nach stark gesunkene Niveau der Kun­st­metro­pole: »Der Lit­er­a­ten­durch­schnitt in München ist jam­mer­voll. Was sich als Denker und Dichter bre­it macht, ist dumm, schmutzig und schäbig.« Und während er am Der Unter­gang des Abend­lan­des arbeit­ete, übertrug Spen­gler seinen Fatal­is­mus auch auf München, dessen jüng­ste Ver­gan­gen­heit er bere­its nos­tal­gisch zu verk­lären begann: »Mein München von 1900 schildern! Längst tot. Kun­st­stadt, let­zter Hauch von Lud­wig I. Ewige Sehn­sucht danach … Es war eine Zeit der Kul­tur: man las und dachte (Reclam, Insel, Kunst­wart), heute ken­nt man nur noch Fußball und Saalschlacht­en. Amerikanis­mus. Damit war ich der let­zte ein­er Rei­he. Eine neue fängt nicht mehr an.«

Tat­säch­lich ging der alte Glanz spätestens mit dem Krieg ver­loren, und München wurde, ähn­lich wie Berlin, zu ein­er Stadt der ide­ol­o­gis­chen Grabenkämpfe und der Putschver­suche (žMünchen: Feld­her­rn­halle). Was blieb, war der Mythos eines Ortes, an dem sich indi­vidu­ell, »mod­ern« oder »anti­mod­ern«, und frei von Gän­gelung durch poli­tis­che oder moralis­che Repres­sion denken, schaf­fen und leben lasse.

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Lit­er­atur:

  • Dirk Heißer­er: Wo die Geis­ter wan­dern. Eine Topogra­phie der Schwabinger Bohème um 1900, München 1993
  • Wolf­gang Mar­tynkewicz: Salon Deutsch­land. Geist und Macht 1900–1945, Berlin 2009