Politik. Vorlesungen — Heinrich von Treitschke, 1897

Wahrschein­lich gehört Hein­rich von Tre­itschke zu den am stärk­sten unter­schätzten His­torik­ern Deutsch­lands. Für die meis­ten, die mit seinem Namen über­haupt noch etwas verbinden, genügt der Hin­weis auf die Beteili­gung am Berlin­er Anti­semitismusstre­it, um ihn als erledigt zu betra­cht­en. Aber abge­se­hen davon, daß kaum jemand den Ver­lauf dieses Kon­flik­ts ken­nt und insofern die Rolle Tre­itschkes wirk­lich zu beurteilen wüßte, ist festzuhal­ten, daß Tre­itschke in erster Lin­ie Wis­senschaftler und poli­tis­ch­er Denker war und einen außeror­dentlichen Ein­fluß auf die geistige Elite Deutsch­lands am Ende des 19. Jahrhun­derts nahm. Män­ner wie Max Weber, Friedrich Nau­mann und Friedrich Mei­necke zählten ihn zu den größten ihrer Zeitgenossen.

Ganz wesentlich beige­tra­gen haben zu diesem Ruhm die Vor­lesun­gen, die Tre­itschke an der Uni­ver­sität Berlin zum The­ma »Poli­tik« hielt. Es han­delte sich – in ein­er Zeit, die noch keine Sozial-oder Poli­tik­wis­senschaft an den Hochschulen kan­nte – um einen der ersten Ver­suche, poli­tis­che The­o­rie nicht im Sinn eines philosophis­chen Konzepts vorzu­tra­gen, aber auch nicht als Nebe­naspekt der Geschichte zu behan­deln, son­dern als Ver­such, aus der Menge der his­torischen Fälle eine Rei­he von Ide­al­typen und Regeln abzuleit­en. Tre­itschke war sich dabei über die Stan­dort­ge­bun­den­heit sein­er Darstel­lung im klaren, trug seine Auf­fas­sung allerd­ings mit dem Selb­st­be­wußt­sein eines Mannes vor, der auf­grund seines Wis­sens und sein­er prak­tisch-poli­tis­chen Erfahrung ein Urteil abzugeben und zu begrün­den wußte, das noch in sein­er Ein­seit­igkeit zum Nach­denken zwingt.

Dabei ist unverkennbar, wie stark Tre­itschke in der frei­heitlichen Denk­tra­di­tion wurzelte und trotz sein­er realpoli­tis­chen Kehre nach der gescheit­erten Rev­o­lu­tion von 1848 an den Überzeu­gun­gen fes­thielt, die der nationale Lib­er­al­is­mus in der zweit­en Hälfte des 19. Jahrhun­derts nicht nur in Deutsch­land ver­trat. So erk­lärt sich seine Parteinahme für die kon­sti­tu­tionelle Monar­chie, den Frei­han­del und die Skep­sis gegenüber Demokratie und Impe­ri­al­is­mus. So erk­lärt sich auch, daß es in der NS-Zeit immer wieder Bezug­nah­men auf Tre­itschke gab (und eine »naz­i­fizierte« Fas­sung sein­er Deutschen Geschichte), die Poli­tik dabei aber aus­ges­part blieb.

Was Tre­itschkes Lehre mit den heuti­gen Vorstel­lun­gen so schw­er kom­pat­i­bel macht, ist insofern nicht irgen­deine »Belas­tung«, son­dern die für den Zeit­geist unerträgliche Behaup­tung der »Uran­fänglichkeit« des Staates, der Bedeu­tung des großen Einzel­nen, die kon­se­quente Ablehnung jed­er Natur­rechts- oder Ver­trags­the­o­rie, die Beto­nung des Mach­taspek­ts und des Tatbe­stands, daß Krieg als »Poli­tik kat exochen« zu betra­cht­en sei.

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Zitat:

Daher ist die Idee eines Wel­tre­ich­es has­senswerth; das Ide­al eines Men­schheit­staates ist gar kein Ide­al.

Aus­gabe:

  • 5. Auflage, Leipzig: Hirzel 1922

Lit­er­atur:

  • Ulrich Langer: Hein­rich von Tre­itschke. Biogra­phie eines deutschen Nation­al­is­ten, Düs­sel­dorf 1998