Psychologie der Weltanschauungen — Karl Jaspers, 1919

Nach dem Ersten Weltkrieg vol­l­zog sich vor allem in Deutsch­land ein weltan­schaulich­er Umbruch, der das ganze bis dahin gültige Wert­ge­füge in Bewe­gung brachte, Jaspers spricht von der »Erschüt­terung der Über­liefer­ung«. In dieser Sit­u­a­tion veröf­fentlichte er die Psy­cholo­gie der Weltan­schau­un­gen, die auf Vor­lesun­gen der Kriegszeit zurück­ge­ht. Jaspers, der damals in Hei­del­berg als Psy­chopathologe lehrte, legte damit sein erstes philosophis­ches Buch vor, das er selb­st als »ver­ste­hende Psy­cholo­gie« beze­ich­nete, die das »Ver­ste­hen« in den Mit­telpunkt stellte und damit den Anspruch beispiel­sweise der Psy­cho­analyse, »Leben zu schaf­fen und zu leben«, zurück­wies.

Für Jaspers ist die Sub­jekt-Objekt-Spal­tung der Schlüs­sel zur Weltan­schau­ung des Men­schen. Dem Men­schen (Sub­jekt) ist es nicht gegeben, seine Inten­tion auf das Objekt zu erfüllen, es bleibt immer ein Spalt zwis­chen bei­den. Ein mys­tis­ches Eins­sein mit den Din­gen, wie man es für natur­re­ligiöse Kul­turen der Frühzeit annimmt, ist nicht möglich, wom­it gle­ichzeit­ig auch klar ist, daß für den Men­schen kein paradiesis­ch­er Ur- bzw. Endzu­s­tand erre­icht wer­den kann. Aus diesem Ver­hält­nis resul­tieren die sta­tis­chen Ele­mente der Weltan­schau­ung: die Ein­stel­lun­gen (gegen­ständlich, selb­stre­flek­tierend, enthu­si­astisch), die fra­gen, wie wir uns zu den Din­gen ver­hal­ten sollen; und die Welt­bilder (sinnlich-räum­lich, seel­isch-kul­turell, meta­ph­ysisch), die beschreiben, wie die Dinge beschaf­fen sind, auf die sich die Ein­stel­lun­gen beziehen

Aus diesen bei­den Ele­menten formt der »lebendi­ge Prozeß des Geistes« die struk­turi­erten Weltan­schau­un­gen, die Jaspers als »Geis­testypen« beze­ich­net. Der Prozeß selb­st vol­lzieht sich in den berühmten Gren­zsi­t­u­a­tio­nen: Lei­den, Kampf, Tod, Zufall, Schuld. Sie stellen den Men­schen vor eine Sit­u­a­tion, die nicht wan­del­bar ist und in der er sich ändern und entschei­den muß. Im Hin­ter­grund der Gren­zsi­t­u­a­tio­nen ste­ht die antin­o­mis­che Struk­tur des Daseins, die keine ein­deuti­gen, ewig­gülti­gen Antworten auf die Fra­gen des Lebens zuläßt. In den Gren­zsi­t­u­a­tio­nen lösen sich erstar­rte Hal­tun­gen auf, und es entschei­det sich neu, worin der Men­sch seinen Halt find­et, im »Gehäuse« oder im »Unendlichen«.

Dazu muß der Men­sch, so Jaspers, durch den Nihilis­mus als ein­er notwendi­gen Entwick­lungsstufe hin­durch und alles in Frage stellen. Wer dort nicht ver­weilt, als Sophist, Skep­tik­er oder »Nihilist der Tat« oder psy­chisch krank wird, kann wieder neue »Gehäuse« auf­bauen (die ihm zwar Ori­en­tierung geben aber auch die Gefahr der Erstar­rung enthal­ten) oder den »Halt im Unendlichen« find­en. Mit diesem Para­dox­on umschreibt Jaspers seinen eigentlichen Anspruch: Ein Geis­testy­pus ist nie das Leben selb­st, deshalb ist der unendliche For­mung­sprozeß, die Grat­wan­derung in den Gren­zsi­t­u­a­tio­nen, die eigentliche Her­aus­forderung.

Mit diesem Buch, das seinen Ruhm begrün­dete und das sich­er sein schön­stes ist, gren­zte sich Jaspers deut­lich von der soge­nan­nten Wert­philoso­phie ab, die der Mei­n­ung war, dem Men­schen ein entsprechen­des Wert­gerüst ver­mit­teln zu kön­nen, nach dem er sich dann nur noch zu richt­en braucht. Jaspers war dage­gen der Auf­fas­sung, daß durch solche Wertlehren nur Ver­wirrung entste­ht, weil neue Sit­u­a­tio­nen eigene und neue Entschei­dun­gen ver­lan­gen. Die Psy­cholo­gie der Weltan­schau­un­gen gilt als erste Schrift der Exis­ten­zphiloso­phie, die später auch mit dem Namen Mar­tin Hei­deg­gers ver­bun­den wurde. Hei­deg­ger hat das Buch aufmerk­sam gele­sen und eine kri­tis­che Rezen­sion ver­faßt, und auch Arnold Gehlen war in seinen Schriften der späten zwanziger Jahre von dem Buch bee­in­flußt.

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Zitat:

Der lebendi­ge Real­ist fühlt gegenüber dem irrealen Prinzip­i­en­men­schen und Fanatik­er: die Dinge nicht klein schla­gen, son­dern gestal­ten! gegenüber dem chao­tis­chen Real­is­ten: Sinn, Rich­tung und Glauben haben! gegenüber dem for­m­er­star­rten, engen und absoluten Real­is­ten: weit, frei, enthu­si­astisch zu sein, um einzuschmelzen, in Frage zu stellen, um wach­sen und gestal­ten zu kön­nen.

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Aus­gabe:

  • 6. Auflage, Berlin/Göttingen/Heidelberg: Springer 1971 (mit Reg­is­ter); auch als Taschen­buchaus­gabe, München: Piper 1994

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Lit­er­atur:

  • Hans San­er (Hrsg.): Karl Jaspers in der Diskus­sion, München 1973