Reden an die deutsche Nation — Johann Gottlieb Fichte, 1808

Ficht­es Reden sind ein­er­seits in der Zeit der preußis­chen Nieder­lage und Erniedri­gung als zen­traler Beitrag zu Preußens Erneuerung angelegt. Gehal­ten wur­den die Vor­lesun­gen im Win­ter 1807/08 in Berlin, als es unter franzö­sis­ch­er Besatzung stand. Zugle­ich wollen sie aber der eige­nen Zeit ihren ver­bor­ge­nen Sinn im Welt­plan auf­schlüs­seln, und dies nicht nur für diese Zeit selb­st, son­dern im Sinne des sich selb­st begrün­den­den Denkens der Wis­senschaft­slehre. Jede nur kon­textuelle Lesart greift also zu kurz. Eben­so wichtig ist es, zu bemerken, daß Fichte unter den großen Geis­tern sein­er Zeit der vielle­icht entsch­ieden­ste Parteigänger der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion war.

Die Begrün­dung des Ver­nun­ft­prinzips der Rev­o­lu­tion hielt Fichte freilich für empirisch willkür­lich. Man könne gar nicht, so Fichte in einem Brief an Rein­hold, schlechter von den rev­o­lu­tionären Fran­zosen und ihren Parteigängern denken als er selb­st. »Aber es ist lei­der dahin gekom­men, daß jed­er Bie­der­mann wün­schen muß, daß so schlimm auch die Prax­is der­sel­ben ist, sie doch um ihrer Prin­cip­i­en willen, den Sieg davon tra­gen möcht­en.« Fichte betont, daß die Nationalerziehung nur auf der Grund­lage ein­er Abson­derung der kün­fti­gen Gen­er­a­tio­nen von dem »Gemeinen« der Gegen­wart gelin­gen kann. Zugle­ich sieht er aber die vornehm­ste Auf­gabe der gebilde­ten Stände darin, eben zu dieser Bil­dung beizu­tra­gen.

Aus der Nieder­lage kann, so betont Fichte, nur eine ganz neue Ord­nung der Dinge führen, was zugle­ich bedeutet, daß an die Stelle alter Eigen­sucht die Erziehung der Nation zu einem »all­ge­meinen Selb­st« treten muß. Die Erziehungskonzep­tion, die ganz in der Tra­di­tion der Pla­tonis­chen paideia zu sehen ist, hat zu ihrem Ziel, »einen fes­ten und nicht weit­er schwank­enden Willen« her­vorzubrin­gen. Zu diesem Zweck muß der Zögling nicht nur angere­det, er muß so »gemacht« wer­den, daß er nicht anders wollen kann, als gemäß dem Grundge­setz der geisti­gen Natur zu han­deln.

Schar­fer Kri­tik unterzieht Fichte auch das tra­di­tionelle Chris­ten­tum mit sein­er Über­be­to­nung der Sünde, und er fordert als Kern der Reli­gion die Ein­sicht in das, was der »reine Wille in seinem Grund und Wesen sel­ber sei«.

Zum preußis­chen Patri­oten wurde Fichte erst aus Not. Die Begrün­dung der Prinzip­i­en aus dem Geist der Frei­heit und eine nation­alpäd­a­gogis­che Erneuerung gemäß diesem Prinzip ist nach Fichte die eigentliche Auf­gabe der Deutschen. Geschicht­sphilosophisch bedeutet dies, nach­dem die alte Iden­tität aus der geisti­gen Natur an das Räson­nement, ein »Zeital­ter vol­len­de­ter Sünd­haftigkeit«, ver­loren ist, die Eröff­nung eines neuen, drit­ten Reich­es. Die Aufk­lärungse­poche ist nach Fichte die Epoche der Selb­st­sucht. Sie trägt zwar die Form der Wis­senschaft, nichts gel­ten zu lassen, was sie nicht begreift. Doch ihr alleiniger Maßstab ist ein »bloß empirische[r] Erfahrungs­be­griff« ohne höheren Hor­i­zont.

Während im Zeital­ter der vol­len­de­ten Sünd­haftigkeit Glaube und Ver­stand in einen Wider­stre­it treten, der Ver­stand den Glauben aufhebt, wird auf der Stufe des grundle­gen­den Wis­sens der Glaube vom Ver­stand bestätigt wer­den, und es wird (dies eine sprechende Par­al­lele zu Hegel) sich nur die Form, nicht der Inhalt unter­schei­den.

Eine Nation sind die Deutschen nicht. Fichte schwebt als Par­a­dig­ma vor allem das föderierte Reich als ein­er »Völk­er-Repub­lik« vor, und er betont sog­ar, daß es nichts zur Sache tut, ob der deutsche Staat in einem oder in mehreren erscheint. Grundle­gend für die Fundierung des Wesens ein­er Nation ist in jedem Fall die Sprache. Die deutsche Sprache eröffnet, im Unter­schied zu den nur geistre­ichen, aber im let­zten toten Sprachen der roman­is­chen Welt, den Zugang zur Ideen­welt, zu Verbesser­lichkeit des Men­schen und Frei­heit. In der zen­tralen sech­sten Rede betont Fichte, daß die deutsche Geschichte eine Geschichte der Frei­heit und des Repub­likanis­mus ist. Dies ist eine dezi­diert anti-römis­che, protes­tantis­che, auf Luther zen­tri­erte, von den Reichsstädten gegen den Zen­tral­is­mus gerichtete Geschicht­sauf­fas­sung. Auch Napoleon wird von Fichte jede höhere Legit­i­ma­tion abge­sprochen. Er ist ein »Namen­los­er«, wed­er legit­imer Kaiser noch Erbe der Repub­lik. Mit Kant bleibt Fichte auf der Lin­ie eines Aus­gle­ichs von Patri­o­tismus und Kos­mopolitismus. Ger­ade die Defen­sivpoli­tik des Reich­es im Unter­schied zu den kolo­nialen Aus­grif­f­en der roman­is­chen Natio­nen hebt Fichte her­vor. In diesem Sinne ist auch sein Votum für die Wahl- und gegen die Erb­monar­chie zu ver­ste­hen.

Es liegt daher auch ein kos­mopoli­tis­ches Moment darin, daß Fichte bemerkt, die deutsche Nation, sofern sie sich aus der Ver­nun­ftwissenschaft neu begrün­det, könne »Wiederge­bährerin und Wieder­her­stel­lerin der Welt sein«. Verpflich­tungscharak­ter und Sendungs­be­wußt­sein liegen hier in eng­ster Nach­barschaft. Von hier her begreift er die Nation als das »irdisch Ewige«, als Abbild der überzeitlichen Welt in der zeitlichen.

Augen­fäl­lig ist auch, daß die Reden eine defen­sive und föderale Poli­tik den impe­ri­alen und kolonisieren­den Ten­den­zen der Roma­nia ent­ge­genset­zen. Mit ide­olo­giekri­tis­chen Kla­gen und einzel­nen Zitat­en wie, daß Charak­ter haben und deutsch zu sein iden­tisch sei, kommt man dem Rang der Ficht­eschen Reden, der prak­tis­chen Kehr­seite von Ficht­es Wis­senschaft­slehren, nicht nahe. Wie Rein­hard Lauth zutr­e­f­fend bemerkt hat, wird Fichte dem Prinzip des Ver­nun­ft­staates keineswegs untreu. Seine Idee des Wieder­auf­stiegs der deutschen Nation hat nichts Reak­tives an sich, sie ist auch frei von der roman­tis­chen Idee ein­er Wieder­her­stel­lung des Mit­te­lal­ters oder der Konzep­tion des Wiener Kon­gress­es. Nur auf dem Fun­da­ment der Ver­nun­ftwissenschaft kann vielmehr diese Erneuerung geschehen.

Es bedarf kaum näher­er Erörterung, daß Ficht­es Reden ein­er der Grund­texte deutschen Patri­o­tismus und Nation­al­is­mus sind, gle­icher­maßen klas­sisch in der Burschen­schaft, in der akademis­chen Welt des Kaiser­re­ichs und maßge­blich für die »Ideen von 1914«. Der zumin­d­est indi­rek­te Ein­fluß auf die preußis­chen Reformer ste­ht außer Frage. Carl Schmitt hat deshalb zu Recht bemerkt, daß Fichte »den Geist der deutschen Befreiungskriege gegen Napoleon geprägt [hat], jeden­falls soweit es sich um Preußen han­delt«. Emphatis­che Beru­fun­gen find­et man sowohl bei Tre­itschke wie bei Las­salle. Nicht zu vergessen ist, daß Ficht­es Reden für den mod­er­nen Zion­is­mus eine der wichtig­sten Ref­eren­zen bedeuten. Eine bewe­gende Schilderung ihrer unmit­tel­baren Wirkung gibt Fontane in seinem Romanepos Vor dem Sturm (1878).

Zulet­zt hat Bernard Willms ver­sucht, Ficht­es »nationalen Imper­a­tiv« für eine rechte Neube­grün­dung der Nation frucht­bar zu machen. Sel­ten wur­den die Reden aber in ihrer ganzen Tiefe und im Zusam­men­hang mit Ficht­es Ver­nun­ftwissenschaft begrif­f­en. Dies gilt um so mehr für die heute gängige ide­olo­giekri­tis­che Lesart. Nach­dem in der Nachkriegszeit eine umfassende edi­torische und wis­senschaftliche Rekon­struk­tion von Ficht­es the­o­retis­ch­er und prak­tis­ch­er Philoso­phie einge­set­zt hat, ist es an der Zeit, auch seinem Begriff von Staat und Nation die abwä­gende Aufmerk­samkeit zu wid­men, die sie ver­di­ent.

 

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Zitat:

Die alte Welt mit ihrer Her­rlichkeit und Größe, sowie mit ihren Män­geln ist ver­sunken, durch die eigene Unwürde, und durch die Gewalt eur­er Väter. Ist in dem, was in diesen Reden dargelegt wor­den, Wahrheit, so seid unter allen neueren Völk­ern ihr es, in denen der Keim der men­schlichen Ver­vol­lkomm­nung am entsch­ieden­sten liegt, und denen der Vorschritt in der Entwick­lung der­sel­ben aufge­tra­gen ist. Gehet ihr in dieser eur­er Wesen­heit zugrunde, so gehet mit euch zugle­ich alle Hoff­nung des gesamten Men­schengeschlechts auf Ret­tung aus der Tiefe sein­er Übel zugrunde.

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Aus­gabe:

  • Mit ein­er Ein­leitung von Alexan­der Aichele, Ham­burg: Mein­er 2008

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Lit­er­atur:

  • Karl Hahn: Staat, Erziehung und Wis­senschaft bei J. G. Fichte, München 1969
  • Peter L. Oester­re­ich: Poli­tis­che Philoso­phie oder Dem­a­gogie? Zur rhetorischen Metakri­tik von Ficht­es Reden an die deutsche Nation, in: Fichte-Stu­di­en 2 (1990)
  • Bernard Willms: Die totale Frei­heit. Ficht­es poli­tis­che Philoso­phie, Köln/Opladen 1967