Reich

Reich bedeutet sein­er ger­man­is­chen Wurzel nach soviel wie Reich­tum, Macht, Her­rlichkeit; es beste­ht sich­er eine Verbindung zu Par­al­lel­be­grif­f­en in anderen indoger­man­is­chen Sprachen, etwa dem keltischen rig oder dem lateinis­chen reg­num, das wiederum auf rex für »König« ver­weist. Unserem heuti­gen Wort liegt das mit­tel­hochdeutsche riche zugrunde, das nur in Deutsch­land ana­log zu reg­num wie imperi­um gebraucht wurde, während der Ter­mi­nus im Englis­chen oder Franzö­sis­chen allmäh­lich seine beson­dere Ladung ver­lor und ein­fach nur noch den Besitz von materiellem Reich­tum bedeutete.

Dieser begrif­flichen Son­der­en­twick­lung entsprach eine poli­tis­che, insofern die Deutschen zum »Reichsvolk« par excel­lence wur­den. Der größte Teil ihrer Geschichte zwis­chen dem 9. und dem 19. Jahrhun­dert war geprägt von der Vorstel­lung, zum Träger des Reichs­gedankens berufen zu sein. Diese Idee hat­te einen dop­pel­ten Ursprung: den Auf­stieg zuerst des fränkischen, dann des ost­fränkischen beziehungsweise deutschen Königs zum mächtig­sten Fürsten Europas, der deshalb vom Papst zum Schutzher­rn der Kirche ernan­nt und zum Kaiser (Monar­chie) gekrönt wurde, und die Vorstel­lung von der trans­la­tio imperii, das heißt der Über­tra­gung der römis­chen Reich­stra­di­tion.

Diese Über­nahme des Reichs – so tief entsprechende Vorstel­lun­gen in der Men­tal­ität des Mit­te­lal­ters ver­ankert waren – brachte let­ztlich unlös­bare Prob­leme mit sich. Zuerst ver­fiel die fak­tis­che Macht des Reichs rapi­de seit dem 12. Jahrhun­dert, was auch auf die Infragestel­lung der Sakral­ität des Kaiser­tums durch die Kirche zurück­zuführen war, aber in erster Lin­ie mit dem Auf­stieg der mit­te­lal­ter­lichen Nation­al­staat­en zu tun hat­te. Trotz­dem ver­sucht­en die Kaiser an ihrem beson­deren Rang festzuhal­ten, was sie zu immensen Anstren­gun­gen zwang, die im eigentlich poli­tis­chen Sinn schädlich waren.

Auch scheit­erten die seit dem 15. Jahrhun­dert unter­nomme­nen Ver­suche zu ein­er großen Reich­sre­form aus­nahm­s­los, ähn­lich­es gilt für alle Bemühun­gen, das Reich stärk­er als ein »deutsches Reich« zu fassen und den über­na­tionalen Charak­ter – das Reich umfaßte immer neben ger­man­is­chen auch roman­is­che und slaw­is­che Gebi­ete – zu beschnei­den. Nach dem Ende des Dreißigjähri­gen Krieges war das Reich nur noch ein Schat­ten sein­er selb­st, die regierende Dynas­tie der Hab­s­burg­er konzen­tri­erte sich im wesentlichen auf ihre Haus­macht, und angesichts des Auf­stiegs des napoleonis­chen Imperi­ums fiel auch der Rest an Zusam­men­halt dahin, 1806 legte der let­zte Kaiser des »Heili­gen Römis­chen Reichs Deutsch­er Nation« seine Kro­ne nieder.

Obwohl die Kri­tik an der Real­ität des Reichs seit der Barockzeit an Schärfe zugenom­men hat­te, behielt der Begriff nach dem Unter­gang seinen Nim­bus, was erk­lärt, warum auch das »Zweite Reich«, also der von Bis­mar­ck gegrün­dete klein­deutsche Nation­al­staat, an der Beze­ich­nung fes­thielt, eben­so wie die Weimar­er Repub­lik und das NS-Regime, und warum sich in der Nation­al­be­we­gung die Vorstel­lung fest­set­zte, daß das Reich ein deutsches Erbe sei, eine Beson­der­heit, der man nur gerecht wer­den könne, wenn man die innere Vielgestaltigkeit und föderale (Bund) Zuord­nung bewahre, jeden­falls nicht dem west­lichen Vor­bild des Zen­tral­is­mus folge. Teil­weise waren solche Ideen mit großdeutschen Plä­nen verknüpft, deren Ver­wirk­lichung allerd­ings in mehreren Anläufen scheit­erte.

Entsprechende Vorstel­lun­gen ver­schwan­den aber nie ganz und erlebten nach dem Zusam­men­bruch des Bis­mar­ck­staats im Ersten Weltkrieg eine bemerkenswerte Renais­sance. Dabei spielte nicht nur poli­tis­che Roman­tik mit, son­dern auch das Konzept, den deutschen Wieder­auf­stieg mit konkreten Plä­nen von der »bündis­chen« Reor­gan­i­sa­tion des mit­teleu­ropäis­chen Raums zu verknüpfen. Ein solch­es »Reich« sollte aus­drück­lich von jedem Impe­ri­al­is­mus frei sein. Eine Auf­fas­sung, die man naiv nen­nen mag, die jeden­falls der Nation­al­sozial­is­mus nicht teilte, der sich den Begriff des Reichs als Staats­beze­ich­nung aneignete und mit der Vorstel­lung verknüpfte, das britis­che Mod­ell eines Imperi­ums zu kopieren.

Das hat den Reichs­be­griff diskred­i­tiert, wen­ngle­ich er doch bis zum Ende der vierziger Jahre als so unbe­lastet galt, daß von den Sozialdemokrat­en bis zu den Kon­ser­v­a­tiv­en angenom­men wurde, ein zukün­ftiger deutsch­er Gesamt­staat werde selb­stver­ständlich »Deutsches Reich« heißen.

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Zitate:

Unter Reich­sidee ist die Idee des Wel­tre­ichs zu ver­ste­hen, also die Idee, daß die bekan­nte Welt, die gesit­tete Men­schheit, eine ober­ste, poli­tis­che Autorität hat: die Idee ein­er über­staatlichen, uni­ver­salen poli­tis­chen Autorität ist gemeint.
Karl Fürst Schwarzen­berg

Was war nach dem allem das alte Reich? Offen­bar ein Wesen eigen­er Art, unter keine Kat­e­gorie zu brin­gen. Bald erscheint es nur wie der die spon­ta­nen Bil­dun­gen umfassende Rah­men, bald wie ein Staat mit durch­greifend­en Gewal­ten, bald wie ein Staaten­sys­tem und Völker­bund mit bloß ver­tragsmäßi­gen Ein­rich­tun­gen. So war das alte Reich: der Schulthe­o­rie ein Rät­sel wie ein Ärg­er­nis, aber gle­ich­wohl eine Tat­sache und sog­ar etwas Größeres und Tief­sin­nigeres als ein schul­gerechter Staat.
Con­stan­tin Frantz

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Lit­er­atur:

  • Alois Dempf: Sacrum Imperi­um. Geschichts- und Staat­sphiloso­phie des Mit­te­lal­ters und der poli­tis­chen Renais­sance [1929], zulet­zt München 1973
  • Paul Joachim­sen: Der deutsche Staats­gedanke von seinen Anfän­gen bis auf Leib­niz und Friedrich den Großen [1921], zulet­zt Darm­stadt 1976
  • Jean Neu­rohr: Der Mythos vom Drit­ten Reich, Stuttgart 1957
  • Karl Fürst Schwarzen­berg: Adler und Drache. Der Weltherrschafts­gedanke, Wien 1951
  • Christoph von Thienen-Adler­fly­cht: Reich, in: Cas­par von Schrenck-Notz­ing (Hrsg.): Lexikon des Kon­ser­vatismus, Graz 1996, S. 446–453