Söhne und Weltmacht — Gunnar Heinsohn, 2003

Der Sozi­ologe Hein­sohn beschreibt den Zusam­men­hang zwis­chen hohen Geburten­rat­en und Kon­flik­t­bere­itschaft bzw. ‑häu­figkeit, was im angel­säch­sis­chen Raum auch als youth-bulge-The­o­rie bekan­nt ist. Grund­sät­zlich besagt diese The­o­rie, daß die Anwe­sen­heit ein­er ver­hält­nis­mäßig hohen Anzahl von jun­gen Män­nern in einem Volk zu ein­er hohen Gewalt­bere­itschaft und damit häu­fig zu Kriegen führt. Wenn der Anteil der 15- bis 24jährigen mehr als 20 Prozent der Gesamt­bevölkerung aus­macht, bedeutet dies einen »Jung­män­nerüber­schuß« und hat meist sicher­heit­spoli­tis­che Fol­gen. In Län­dern, in denen Frauen mehr als zwei Söhne gebären, sind diese häu­fig in der Erb­folge aus­sicht­s­los und genießen einen gerin­gen gesellschaftlichen Sta­tus. Alle gesellschaftlichen Posi­tio­nen der Väter wer­den durch die Erst- und Zweit­söhne gefüllt, Dritt- und Viert­söhne gehen leer aus.

»Über­flüs­sig« und mit nur geringem Sta­tus verse­hen, ste­hen diese Män­ner als frus­tri­ertes »Humankap­i­tal« bere­it, um sich für poli­tis­che Ziele als »Helden« und »Mär­tyr­er« zu opfern bzw. Ruhm und Anerken­nung durch Gewalt zu erlan­gen. Der Abbau des »Jung­män­nerüber­schuss­es« läßt sich daher häu­fig mit Kolonisierung, Krieg, Bürg­erkrieg, Rev­o­lu­tion oder Ter­ror­is­mus in Verbindung brin­gen. In 60 der 67 von Hein­sohn erwäh­n­ten Län­der mit youth bulge wütet Mas­sen­ge­walt in irgen­dein­er Form.

Hein­sohn weist darauf hin, daß die Ver­acht­fachung der Bevölkerung in mus­lim­is­chen Län­dern, von 150 Mil­lio­nen vor 100 Jahren auf gegen­wär­tig 1200 Mil­lio­nen, der wesentliche Grund für die glob­ale Ver­schär­fung jen­er Lage ist, die auch als »Kampf der Kul­turen« beze­ich­net wer­den kann. Die Tat­sache, daß die mus­lim­is­che Welt über vier­mal so viele junge Män­ner ver­fügt wie der West­en, nährt den Kon­flikt stärk­er als die klas­sis­chen Erk­lärun­gen wie »Armut«, »man­gel­nde Bil­dung« oder »Reli­gion«. Hein­sohn pos­tuliert daher, daß für Nahrung eher gebet­telt, für Anerken­nung jedoch getötet wird.

Die Ver­füg­barkeit von jun­gen Män­nern bes­timmt weit­ge­hend die Fähigkeit von Kriegsparteien, ihre poli­tis­chen bzw. mil­itärischen Ziele zu ver­wirk­lichen. Sie bes­timmt außer­dem die Aus­sicht­en auf Beendi­gung oder Fort­set­zung von Kon­flik­ten, denn die Anwe­sen­heit von »Brüdern« und »Cousins« ist die Voraus­set­zung für die Anwe­sen­heit von »Räch­ern«. Erst wenn Kon­flik­te ern­sthafte demographis­che Auswirkun­gen zeigen, begin­nen sie sich abzuschwächen: Demographisch erschöpfte Völk­er tendieren weniger zum Krieg als demographisch vitale. Während erst­ge­nan­nte zum Erhalt ihrer Rest­sub­stanz zur Risiko- und Ver­lus­taver­sion neigen, pfle­gen let­zt­ge­nan­nte den Hero­is­mus und Bevölkerung­sex­port. Laut Hein­sohn wird sich die Lage ab dem Jahr 2025 durch den glob­alen Rück­gang der Geburten entspan­nen, ab 2050 kön­nte es zum gän­zlichen Ver­schwinden des Phänomens kom­men.

Hein­sohns Buch liest sich wie eine detail­lierte Bestä­ti­gung der These »demog­ra­phy is des­tiny« (Demogra­phie ist Schick­sal), die bere­its Niet­zsche ver­trat, als er schrieb, daß Völk­er, die aus kriegstüchti­gen Män­nern und gebärtüchti­gen Frauen beste­hen, nicht über ihre Zukun­ft ver­han­deln wer­den. Ähn­lich wie Samuel Hunt­ing­tons Kampf der Kul­turen wurde Hein­sohns
Buch vom linken Spek­trum kri­tisiert. Ihm wur­den »mar­tialis­che Sprache«, Stammtis­chniveau, Monokausal­ität und selek­tive Argu­men­ta­tion unter­stellt. Dage­gen forderte Peter Slo­ter­dijk, daß das Buch »zur Pflichtlek­türe von Poli­tik­ern und Feuil­leton­is­ten gemacht wer­den sollte«. Bemerkenswert ist, daß über die eigentliche These Hein­sohns geschwiegen wird.

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Zitat:

Drit­tweltlän­der kön­nen Mil­lio­ne­n­armeen junger Män­ner ins Feuer schick­en, die als zweite oder gar vierte Söhne daheim nir­gend­wo wirk­lich gebraucht wer­den, weshalb für sie der Hero­is­mus als wirk­liche Chance erscheinen kann.

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Aus­gabe:

  • Taschen­buchaus­gabe, München: Piper 2008