Peter Sloterdijk, der in den frühen 1980er Jahren mit dem Bestseller Kritik der zynischen Vernunft bekannt wurde, begann sein schriftstellerisches Werk im Umfeld der Kritischen Theorie. Nicht von ungefähr spricht man vom „letzten Kultbuch der APO-Generation“ (Karl-Heinz Götze). Mit der Frankfurter Schule teilte Sloterdijk die Kritik an der Verengung des Rationalen hin zur bloßen „instrumentellen Vernunft“, in seiner Beschreibung: zum Zynischen. Die beiden Bände erörtern die Hauptvarianten dieser Haltung, die vom Militärzynismus bis zum Wissenszynismus reichen. Sie werden mit der Gestalt des Kynikers, der eine provokative Haltung mit Bedürfnislosigkeit verbindet, kontrastiert. In Sloterdijks tour d’horizon durch die jüngere Geschichte legt er auf die Zeit der Weimarer Republik besonderen Nachdruck. Auffällig ist Sloterdijks Widerwillen gegen Rechte und Neokonservative. Diesen Ausgangspunkt muss man sich vergegenwärtigen, wenn man die Gratwanderungen des amtierenden Rektors der Karlsruher „Staatlichen Hochschule für Gestaltung“ untersucht.
Nach einigen weniger beachteten Schriften legte der Philosoph um die Jahrtausendwende mit seinem dreibändigen Sphärenprojekt wieder ein Opus Magnum vor. Statt der substanzmetaphysischen Frage („Was ist der Mensch?“) stellt er die topologische („Wo ist der Mensch?“). Von der pränatalen „Klausur in der Mutter“ im ersten Band („Blasen“) schlägt die monumentale Abhandlung, die sich in mancherlei Hinsicht Spengler zum Vorbild nimmt, über den formrevolutionären Prozess der frühneuzeitlichen Welteroberung („Globen“) einen Bogen bis zu den vielfältigen horizontal-polyzentrischen Vernetzungen („Schäume“) der Gegenwart. Im Rahmen seiner Untersuchung zeigt der Verfasser auch, wie sich konservative Alteuropäer, etwa Hans Sedlmayr, gegen eine „Welt ohne Zentrum“ (Richard Rorty) zur Wehr setzten. Unterbewertet in der Sekundärliteratur wird zumeist der Bezug Sloterdijks zu Carl Schmitt. Beiden kommt das Verdienst zu, den „Raum als neuen Fundamentalbegriff des Seinsdenkens“ (Norbert Bolz) exponiert zu haben. Wie Heidegger Sein im Horizont der Zeit denkt, so Sloterdijk Sein in dem des Raumes.
1999 wurde Sloterdijk bezichtigt (neben anderen von dem Journalisten Thomas Assheuer und seinem Spiritus Rector im Hintergrund, Habermas), in seiner Elmauer Rede über den Menschenpark eugenische Züchtungsphantasien entworfen zu haben. Im Anschluss an einige kritische Gedanken der philosophischen Tradition (Platon, Nietzsche, Heidegger) zu den domestizierenden Wirkungen des Humanismus bewertet Sloterdijk (in einer sehr suggestiven Sprache) den Wunsch des Menschen nach Verbesserung seiner Natur positiv. Die auf der Hand liegenden Verbindungen zur Gentechnik werden jedoch nicht explizit ausgeführt. Nach eigenem Bekunden geht es dem Gelehrten um eine „Ethik des anthropotechnischen Machtgebrauchs“, die eine „spezifische Differenz“ zwischen „Zooleitern und Zoobewohnern“ nicht zu leugnen brauche. Im Rahmen seiner Antwort auf die Polemik der Gegner erklärte er die Kritische Theorie endgültig für tot.
Eine in konservativen Diskursen üblicherweise geschätzte Kardinaltugend, die Tapferkeit, gilt in den heute scheinbar pazifizierten westlichen Zivilgesellschaften gemeinhin als obsolet. In den Grundtexten der abendländischen Kultur ist die Bedeutung des Zorns jedoch gewichtig. Man vergegenwärtige sich nur den Inhalt der Illias oder der hebräischen Bibel. Sloterdijk blättert in Zorn und Zeit (2006) unterschiedliche Kapitel der Geschichte der thymotischen Kräfte auf, deren locus classicus bei Platon zu finden ist. Das Christentum versucht eine Umformung der antiken Grundtugenden in Richtung Nächsten- und Feindesliebe, was die Ausrichtung der römischen Politik maßgeblich beeinflusst. Dennoch werden die aggressiven Seiten des Menschen auch von dieser Glaubensrichtung nicht vollständig unter Kontrolle gebracht, wie die apokalyptischen Traditionen lehren. Sloterdijks stellt sich in die christentumskritische Tradition Nietzsches und macht keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen den in westlichen Gesellschaften omnipräsenten „Humanitarismus“ (Arnold Gehlen). Im 20. Jahrhundert sieht er für das Wüten des Furors viele Gelegenheiten. Sie reichen von der kommunistische „Weltbank des Zorns“ (Sloterdijk) bis zum weltweit forcierten Feldzug der Rache Allahs gegen westliche Säkularisierung und Dekadenz nach 1989.
Die Ablehnung eines weiteren Ressentiments, diesmal des monetären, bewegt Sloterdijk zu dem Artikel Die Revolution der gebenden Hand (2009). Der Text, der Affinitäten zu wirtschaftsliberalem Gedankengut nicht verbergen kann, prangert den modernen Steuerstaat an, er sei ein „geldsaugendes und geldspeiendes Ungeheuer von beispiellosen Dimensionen“ und die „größte Nehmermacht der modernen Welt“. Jährlich werde den produktiven Schichten etwa die Hälfte ihrer Erträge abgenommen. Sloterdijk empfiehlt einen Ausweg aus dem für ihn untragbaren Zustand der „Staats-Kleptokratie“: die „Revolution der gebenden Hand“. Statt der Zwangsabgaben bevorzugt er eine freiwillige Spende der Leistungsträger, die so als Geber auftreten könnten – eine Geste, die die Spender mit Stolz erfülle.
Sloterdijk, dessen Weg von „anarcholibertären zu rechtsliberalen Positionen“ (Henrique Ricardo Otten) geführt hat, wird in der anschließenden Debatte als „neuer Hayek“ beschuldigt, die Demokratie entmachten zu wollen und einem elitären Denken zu huldigen. Während ein Kritiker von der Flucht in die „Mäzenatensouveränität“ (David Salomon) spricht, beklagt der Habermas-Schüler Axel Honneth die Argumente des Attackierten als ein „Amalgam aus Gehlen, Ortega y Gasset und Ernst Nolte…, nur daß die Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus und deren gemeinsame Rückführung auf die Motive der Gier… hier hemdsärmeliger, ja protziger daherkommt“. So sehr Sloterdijk auch die Gefahren der fiskalischen Umverteilung hellsichtig aufzeigt, darf bezweifelt werden, daß die angedeuteten Auswege plausibel sind: die Umstellung der Steuerpflicht auf eine bloß freiwillige Gabe, die es dem Staat in letzter Konsequenz unmöglich machte, seine für alle unabdingbaren Aufgaben der modernen „Daseinsvorsorge“ adäquat zu erfüllen.
Die antiutopischen und systemkritischen Einsichten des Karlsruher Theoretikers machen ihn für konservatives Denken anschlußfähig.
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Zitat:
Platos gefährlicher Sinn für gefährliche Themen trifft den blinden Fleck aller hochkulturellen Pädagogiken und Politiken – die aktuelle Ungleichheit der Menschen vor dem Wissen, das Macht gibt.
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Schriften:
- Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bde, Frankfurt a.M. 1983
- Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik, Frankfurt a.M. 1993
- Der starke Grund, zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes, Frankfurt a.M. 1998
- Sphären, 3 Bde, Frankfurt a.M. 1998–2004
- Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M. 1999
- Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000
- Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt a. M. 2001
- Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt a.M. 2006
- Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. 2009
- Die nehmende Hand und die gebende Seite: Beiträge zu einer Debatte über die demokratische Neubegründung von Steuern, Berlin 2010
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Literatur:
- Holger von Dobeneck: Das Sloterdijk-Alphabet. Kritisch-lexikalische Einführung in seinen Ideenkosmos, Würzburg ²2006
- Hans-Jürgen Heinrichs: Peter Sloterdijk. Die Kunst des Philosophierens, München 2011
- Sjoerd van Tuinen: Peter Sloterdijk. Ein Profil, Stuttgart 2006