Tauroggen — Litauen, heute: Taurage

Wer hätte gedacht, daß das litauis­che Städtchen Tau­roggen, nördlich Ost­preußens, nach­dem es 1687/88 an Bran­den­burg- Preußen gefall­en und 1793 von König Friedrich Wil­helm II. an die Repub­lik Polen abge­treten wor­den war, noch ein­mal in der preußis­chen Geschichte eine Rolle spie­len würde? Nach dem Sieg Napoleons über Preußen in der Schlacht bei Fried­land in Ost­preußen mußte König Friedrich Wil­helm III. Anfang Juli 1807 in Tilsit den Friedensver­trag unterze­ich­nen. Er ver­lor rund die Hälfte seines Staats­ge­bi­etes. Und Ost­preußen und Königs­berg, wo das Königspaar sei­ther resi­dierte, mußten in den Jahren franzö­sis­ch­er Besatzung empfind­liche wirtschaftliche Opfer hin­nehmen, unge­heure Nat­u­ral­liefer­un­gen wur­den aus dem Land her­aus­gepreßt. Schließlich rüstete Napoleon 1812 hier zu seinem Waf­fen­gang gegen Ruß­land.

Da Preußen seit dem Tilsiter Frieden gezwun­gen war, an der Seite Frankre­ichs zu kämpfen, mußte es ein Hil­f­sko­rps auf­stellen. Im Juni 1812 über­schritt die Grande Armée die rus­sis­che Gren­ze. Die Preußen zogen unter Kom­man­do des Gen­er­alleut­nants Johann David Lud­wig von Yor­ck unter dem franzö­sis­chen Marschall Mac­don­ald in das damals zur rus­sis­chen Kro­ne gehörende, einst dem Deutschen Orden (Frauen­burg, Marien­burg, Tan­nen­berg) unter­ste­hende Kur­land.

Aber der franzö­sis­che Feldzug endete im rus­sis­chen Win­ter. In Eilmärschen zogen sich die Reste der Grande Armée zurück, auch in Kur­land. Auf­grund des beschw­er­lichen Rück­marsches auf ver­schneit­en Straßen kam Yor­ck zwei Tages­märsche vom franzö­sis­chen Marschall ab. Der rus­sis­che Gen­er­al Hans Karl von Diebitsch, in dessen Gefolge sich der preußis­che Major Carl von Clause­witz befand, nahm, um weit­eres Blutvergießen zu ver­mei­den, mit den Preußen Verbindung auf. Er wollte einen Neu­tral­itätsver­trag einge­hen. Während erster Ver­hand­lun­gen, zu
denen die rus­sis­che Seite Clause­witz entsandte, zog Yor­ck weit­er Rich­tung Ost­preußen. So kam er am 29. Dezem­ber 1812 nach Tau­roggen.

Um diese Zeit fühlte sich sein König noch an die Verträge mit Napoleon gebun­den, eine  Entschei­dung war von ihm nicht zu erwarten, jed­er Wech­sel auf die andere Seite mußte somit noch als Hochver­rat ange­se­hen wer­den. Bevor Yor­ck Clause­witz zu Diebitsch zurück­sandte, vergewis­serte er sich daher der Stim­mung unter seinen Offizieren und erkan­nte, daß auch diese dem Augen­blick der Befreiung ent­ge­gen­fieberten.

Am 30. Dezem­ber 1812 trafen sich die bei­den Gen­eräle bei der Poscheruner Müh­le nahe Tau­roggen. Sie unterze­ich­neten einen Waf­fen­still­stand, der das preußis­che Hil­f­sko­rps aus der Allianz mit Frankre­ich löste. Bei den Sol­dat­en wurde die Kon­ven­tion von Tau­roggen mit Enthu­si­as­mus aufgenom­men. In der Nacht vom 4. auf den 5. Jan­u­ar 1813 ver­ließen die Fran­zosen eilig Königs­berg.
Wenige Stun­den später zogen die Russen in die Stadt ein, und am 8. Jan­u­ar erre­ichte sie Yor­ck unter dem Jubel der Bevölkerung. Hier erfuhr er von der Reak­tion Friedrich Wil­helms III.: In der Berlin­er Zeitung vom 19. Jan­u­ar 1813 wurde Yor­ck durch die Stel­lung­nahme des Königs für abge­set­zt erk­lärt; in sein­er Gegen­erk­lärung teilte er mit, daß bish­er kein Gen­er­al seine Befehle durch Zeitun­gen erhal­ten habe.

Der Zus­tim­mung der Ost­preußen und Königs­berg­er kon­nte sich Yor­ck hinge­gen gewiß sein. Zum 5. Feb­ru­ar wurde ein Land­tag aus­geschrieben, an dem 64 Abge­ord­nete teil­nah­men. Da die Vertei­di­gung des Lan­des nur dann von Erfolg gekrönt sein würde, wenn man sich mit der Mil­itär­be­hörde beri­et, wurde Gen­er­al Yor­ck durch eine Dep­u­ta­tion feier­lich einge­holt. Ein gewagter Schritt der Stän­de­v­er­samm­lung, denn auch in Königs­berg hat­te man gehört, daß der Gen­er­al beim König in Ung­nade gefall­en war. Lud­wig von Yor­ck hielt eine flam­mende Ansprache, welche die Ver­samm­lung zum Han­deln gegen den Feind ermuti­gen sollte und ihre Wirkung nicht ver­fehlte. Er schloß mit den Worten: »Ich rechne hier­bei auf die kräftige Teil­nahme aller Ein­wohn­er. Ist die Über­ma­cht zu groß, nun, so wer­den wir ruh­mvoll zu ster­ben wis­sen.« Daher wurde noch am Abend über den von Carl von Clause­witz nach Anre­gun­gen Ger­hard von Scharn­horsts gefer­tigten Entwurf zur Bil­dung ein­er Landwehr berat­en. Nicht nur die Armee sollte kämpfen, son­dern die Bevölkerung selb­st sollte sich gegen die Besatzung erheben, weit­ge­hend alle Män­ner unab­hängig von ihrem Stand und ihrer Reli­gion. Eine Abor­d­nung reiste nach Bres­lau zu Friedrich Wil­helm III., und dieser kon­nte nun seine Genehmi­gung nicht ver­weigern.

Während man in Ost­preußen zum Befreiungskampf rüstete, unterze­ich­nete der König am 17. März 1813 ein Gesetz über die Errich­tung der Landwehr. Und am sel­ben Tag unter­schrieb er den von
dem Ost­preußen Theodor Got­tlieb von Hip­pel ver­faßten berühmten Aufruf »An mein Volk«. Mit der Veröf­fentlichung am 20. März zunächst in Bres­lau, Tage später auch in Berlin­er Zeitun­gen rief Friedrich Wil­helm III. dazu auf, sich gegen die Fran­zosen zu erheben. Nun fol­gte der König dem Weg Gen­er­al Yor­cks und trat auf die Seite der Russen.

Auf­grund des schnellen Auf­baus war es die ost­preußis­che Landwehr, die als einzige schon für die Kämpfe im Früh­jahr 1813 bere­it­stand und schließlich auch an der Schlacht bei Warten­burg – auf­grund dieses Sieges erhielt Gen­er­al Yor­ck 1814 bei sein­er Erhe­bung in den Grafen­stand den Namen­szusatz »von Warten­burg« – und im Okto­ber 1813 an der für Preußen und Russen siegre­ichen Leipziger Völk­er­schlacht teil­nahm. Am 14. April 1814 kon­nten rei­t­ende Pos­til­lione in Königs­berg den Sieg über Napoleon und die Ein­nahme von Paris verkün­den. Nach fast acht Jahren franzö­sis­ch­er Besatzung und Krieg war Preußen wieder frei.

Hun­dert Jahre später, am 30. Dezem­ber 1912, wurde in Tau­roggen ein Gedenkstein eingewei­ht. Mit­glieder der Fam­i­lien Yor­ck und Diebitsch, rus­sis­che Vertreter der Mil­itär- und Zivil­be­hör­den und eben­so der ost­preußis­chen Seite waren zuge­gen. Der Wür­fel aus sechs Plat­ten, der auf vier Bronzekugeln ruhte, zeigte deutsche und rus­sis­che Inschriften. Graf Yor­ck von Warten­burgs Rede »klang aus in ein Hoch auf den Kaiser von Ruß­land.« Gen­er­al von Ren­nenkampf »antwortete mit einem Hoch auf den Deutschen Kaiser.« Zwei Jahre später standen bei­de Län­der erst­mals nach
hun­dert Jahren – nun­mehr gegeneinan­der – im Krieg.

Tau­roggen ste­ht nicht nur für das eigen­ver­ant­wortliche Han­deln des preußis­chen Sol­dat­en und Bürg­ers, son­dern wurde zum bleiben­den Sym­bol preußisch-rus­sis­ch­er Fre­und­schaft für mehr
als hun­dert Jahre. Zwar wurde das Denkmal 1944 von der Roten Armee gesprengt, doch 2012 kon­nte es auf Ini­tia­tive des litauis­chen Unternehmers Sig­i­tas Miciulis rekon­stru­iert wer­den; daß man sich von deutsch­er Seite daran beteiligte, war nicht zu hören.

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Lit­er­atur:

  • Michael Fröh­lich: Tau­roggen 1812. Eine Kon­ven­tion im Span­nungs­feld von Krieg, Diplo­matie und Tra­di­tion, Bonn 2011
  • Die Con­ven­tion von Poscherun am 30. Decem­ber 1812, in: Preußis­che Prov­inzial-Blät­ter, 24. Band, Königs­berg 1840, S. 30–53