Brezinka, Wolfgang, Pädagoge, 1928–2020

Brezin­ka, am 9. Juni 1928 geboren, stammt aus ein­er Berlin­er Fam­i­lie, die stark durch den Dias­po­ra-Katholizis­mus geprägt war; die christliche Herkun­ft hat auch später sein Denken nach­haltig bes­timmt. Er studierte nach dem Zweit­en Weltkrieg an den Uni­ver­sitäten Salzburg und Inns­bruck Psy­cholo­gie, Päd­a­gogik, Philoso­phie und Staatswis­senschaften. Ursprünglich dachte er an eine Tätigkeit im Bere­ich der Sozial- und Heil­erziehung, entschloß sich aber nach der Pro­mo­tion 1951 zu ein­er akademis­chen Lauf­bahn. Brezin­ka habil­i­tierte sich an der Uni­ver­sität Inns­bruck und hat in der Fol­gezeit dort sowie in Würzburg und zulet­zt seit 1967 in Kon­stanz erziehungswis­senschaftliche Lehrstüh­le innege­habt.

Aus sein­er Fed­er sind mehr als zwanzig Büch­er erschienen; nach sein­er Emer­i­tierung 1997 hat er noch drei Bände zur Geschichte des Erziehungswe­sens in Öster­re­ich von enzyk­lopädis­chem For­mat veröf­fentlicht. Wenn Brezin­ka trotz der hohen Aufla­gen, die seine Büch­er erre­icht­en, und trotz der Anerken­nung, die seine Arbeit­en im Aus­land fan­den (es gibt Über­set­zun­gen in fün­fzehn Sprachen), in Deutsch­land als bete noire seines Fach­es gilt, so hat das im wesentlichen zwei Gründe: Zum einen tra­gen ihm ein­flußre­iche Kol­le­gen nach, daß er €™1968 nicht mit­gemacht hat, und zum zweit­en kön­nen sie ihm nicht verzei­hen, daß er mit seinen Diag­nosen und seinen Prog­nosen regelmäßig recht behielt. Brezin­ka hat­te schon 1972 einen schmalen Band mit dem Titel Die Päd­a­gogik der Neuen Linken veröf­fentlicht, eine scharfe Abrech­nung mit seinen Geg­n­ern in der Erziehungswis­senschaft. Er betra­chtete die Machtüber­nahme der Linken in dieser Diszi­plin nicht als isoliertes Phänomen, son­dern als Folge eines Verblendungszusam­men­hangs. Das falsche Men­schen­bild, die falsche Gesellschaft­s­analyse des Marx­is­mus und des Anar­chis­mus und die falsche Auf­gabenbes­tim­mung der Päd­a­gogik führten let­ztlich dahin, daß die »Gesellschaft … sich durch radikalen Zweifel an allen ihren Werten selb­st zer­stört …, ohne daß von außen Gewalt angewen­det wor­den ist«. Brezin­ka gehörte Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre zu der ganz kleinen Zahl von Päd­a­gogen, die sich zum Wider­stand entschlossen. Man kon­nte seine Posi­tions­bes­tim­mung aber nicht als restau­ra­tiv beze­ich­nen, er wußte, daß die »Empfänglichkeit für die päd­a­gogis­chen Ideen der Neuen Linken … neben anderen Grün­den auch auf schlechte Erfahrun­gen mit den vorhan­de­nen Erziehung­sein­rich­tun­gen und der erlebten Erziehung­sprax­is« zurück­zuführen waren.

In ein­er auto­bi­ographis­chen Aufze­ich­nung hat er deut­lich die Män­gel der älteren Päd­a­gogik her­vorge­hoben, die nie aus dem Schat­ten der Philoso­phie her­aus­ge­treten oder den Anforderun­gen des Schul­be­triebs entkom­men war. Seine eigene Konzep­tion des Fachs sah deshalb neben der klas­sis­chen »Philoso­phie der Erziehung« und der »Prak­tis­chen Päd­a­gogik« aus­drück­lich eine »Erziehungswis­senschaft« vor, die, von empirischen Dat­en aus­ge­hend, the­o­retis­che Fest­stel­lun­gen über Meth­o­d­en und Ziele zu tre­f­fen habe. Anders als die Masse sein­er Kol­le­gen wollte er aber Wer­tun­gen – die in der Philoso­phie der Erziehung wie in der Prak­tis­chen Päd­a­gogik ihren selb­stver­ständlichen Platz besitzen – aus der Erziehungswis­senschaft her­aushal­ten. Die damit ein­herge­hende Beto­nung kri­tis­ch­er Ratio­nal­ität (im Sinne Karl Pop­pers) gehörte in den siebziger Jahren zum Habi­tus viel­er (Neo-)Kon­ser­v­a­tiv­er, zu deren wichtig­sten Vertretern man Brezin­ka zählen darf. Brezin­ka ver­ficht eine »Prak­tis­che Päd­a­gogik des aufgek­lärten Kon­ser­vatismus«. Als deren Zen­trum betra­chtet er die Reha­bil­i­tierung der Tugend, die allein Erziehung zur »Leben­stüchtigkeit« ver­bürge. Auch die Frage, was das in con­cre­to bedeutet, hat Brezin­ka nicht unbeant­wortet gelassen: Erziehung muß sich der konkreten Dasein­sor­d­nung vergewis­sern, in der sie stat­tfind­et, das heißt, sie ist bes­timmt durch Kul­tur, Nation und Reli­gion, die ihren Rah­men bilden. Leben­stüchtigkeit gibt es nicht an sich und auch nicht in bezug auf einen phan­tasierten Zukun­ft­sen­twurf, son­dern nur in der Annahme eines Kon­tin­u­ums, das das Gestern, das Heute und das Mor­gen sin­nvoll verbindet.

Brezin­ka starb am 3.1. 2020 in Telfes, Öster­re­ich.

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Zitat:

Jede Krise der Wer­to­ri­en­tierung bewirkt auch eine Erziehungskrise. Unsicher­heit beim Werten führt auch zur Unsicher­heit beim Erziehen. Eine wer­tun­sichere Gesellschaft ist auch eine erziehung­sun­sichere Gesellschaft.

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Schriften:

  • Von der Päd­a­gogik zur Erziehungswis­senschaft. Eine Ein­führung in die Metathe­o­rie der Erziehung, Wein­heim 1971
  • Die Päd­a­gogik der Neuen Linken. Analyse und Kri­tik, Stuttgart 1972
  • Grund­be­griffe der Erziehungswis­senschaft. Analyse, Kri­tik, Vorschläge, München/Basel 1974
  • Erziehungsziele, Erziehungsmit­tel, Erziehungser­folg. Beiträge zu einem Sys­tem der Erziehungswis­senschaft, München/Basel 1976
  • Erziehungsziele in der Gegen­wart. Prob­lematik und Auf­gaben für Fam­i­lien und Schulen, Donauwörth 1984
  • Erziehung in ein­er wer­tun­sicheren Gesellschaft. Beiträge zur prak­tis­chen Päd­a­gogik, München/Basel 1985
  • Gesam­melte Werke, 10 Bde. auf CD-ROM, München 2007

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Lit­er­atur:

  • Siegfried Uhl (Hrsg.): Wolf­gang Brezin­ka. 50 Jahre erlebte Päd­a­gogik, München/Basel 1997