Mehrere Daten markieren die Folge epochaler Ereignisse der Jahre 1918/19, beginnend am 9. November 1918 mit dem Thronverzicht Wilhelms II. und der (zweifachen) Ausrufung der Republik, der am 11. November der Waffenstillstand im Walde von Compigne folgte und die ihren Endpunkt in der Annahme des Friedens von Versailles durch die Nationalversammlung am 23. Juni 1919 fand. Ein Jahr, dessen Ereignisdichte in der Wahrnehmung der Zeitgenossen kaum überschätzt werden kann und dessen Erschütterungen noch lange nachwirken sollten. Dazu gehört auch der Untergang der Monarchien, insbesondere der drei supranationalen Großreiche im Osten — der Habsburgermonarchie, des Zarenreiches und des Osmanischen Reiches, in deren Trümmern noch heute die Keime für die großen Konflikte der Gegenwart nisten.
Niemand hätte am 1. August 1914 gewagt, das Ende der Monarchie binnen vier Jahren vorherzusehen, doch unterminierte der Krieg die Grundlagen der Wilhelminischen Herrschaft, die in den Augen der meisten deutschen Zeitgenossen bis zu diesem Zeitpunkt eine höchst erfolgreiche gewesen war und die Deutschland tatsächlich „herrlichen Zeiten“ entgegengeführt hatte. War dieses Deutsche Reich Wilhelms II. doch — abgesehen von seiner konstitutionellen Verhaftung im 19. Jahrhundert — der modernste und dynamischste Staat Europas, dessen kometenhafte Entwicklung seit der Reichsgründung von 1871 allenthalben als atemberaubend galt.
Doch während des Krieges verschwand Wilhelm II. — und mit ihm die Repräsentanten der anderen regierenden Häuser — aus der medialen Öffentlichkeit, in der mit dem siegreichen Feldmarschall Hindenburg, der schon im Weltkrieg zum Rang eines „Ersatz-Kaisers“ aufrückte, die Militärs dominierten und das entstehende Machtvakuum ausfüllten. Mit den Meutereien der Matrosen in Kiel begann im Oktober 1918 die Erosion der monarchischen Herrschaftsordnung, die von der Küste ausgehend bis zum 9. November das ganze Land erfaßte: vielhundertjährige Dynastien, die Wittelsbacher, die Wettiner und eben die Hohenzollern mit Wilhelm II. traten unspektakulär von der historischen Bühne ab. Kronen fielen, aber Köpfe rollten nicht, kaum ein Schuß fiel, kein Schloß brannte — so verlief die deutsche November-“Revolution“ geradezu gesittet.
Im kaiserlichen Hauptquartier zu Spa sah sich Wilhlem II. von den Ereignissen in der Heimat überrascht und war nicht mehr Herr des Geschehens, als der letzte kaiserliche Reichskanzler, Prinz Max von Baden, in den Morgenstunden des 9. November 1918 zu Berlin in unklarer Lage und eigenmächtig die Abdankung Wilhelms II. als Kaiser und König von Preußen verkündete. Noch am selben Tage riefen der Kommunist Liebknecht vom Balkon des Schlosses und der Sozialdemokrat Scheidemann aus dem Reichstag zweierlei deutsche Republiken aus, und es war nicht ausgemacht, ob sich die bolschewistische oder die gemäßigte durchsetzen würde. Die Angst vor der Revolutionierung Deutschlands nach sowjetrussischem Vorbild jedenfalls trieb die Vertreter der alten und neuen Eliten um und erklärt zu einem nicht unerheblichen Teil deren Schulterschluß mit der Obersten Heeresleitung und die Entwicklung der folgenden Tage und Wochen.
Über Wilhelm II. in seinem belgischen Hauptquartier war die Geschichte bereits hinweggegangen. Vom Geschehen überrollt, folgte er — wenngleich innerlich widerstrebend — dem Rat Hindenburgs, um seiner persönlichen Sicherheit willen ins niederländische Exil zu gehen. Es ist dieser Akt „königlicher Fahnenflucht“, der für die monarchische Idee, das Haus Hohenzollern und alle späteren Ansätze zu einer Restauration monarchischer Herrschaft in Deutschland die größte Hypothek bildete.
Nach dem Untergang der Monarchie galt es zudem, die aufziehende europäische Friedensordnung zu ertragen. Der Frieden von Versailles — der hier bewußt weder Vertrag noch Diktat genannt wird — fällt aus der Tradition europäischer Friedensschlüsse seit 1648, indem hier weder unter gleichberechtigten Kriegsgegnern verhandelt noch ein Interessenausgleich angestrebt wurde. Erstmals erscheint hier wieder das eher vormoderne Kriterium der „Schuld“, das in den europäischen Friedensschlüssen seit Münster und Osnabrück keine Rolle mehr spielte. Selbst bei den Pariser Verträgen von 1814/15 tauchte Schuld bestenfalls subsidiär als personalisierter und gegen Napoleon gerichteter Vorwurf auf. Zudem fehlen in den Urkunden die Oblivionsklauseln (oblivio: Vergessen), die von alters her zum Kernbestand europäischer Friedensschlüsse zählten.
Am denkwürdigen 18. Januar 1919 begann in Paris jener Friedenskongreß, an dessen Ende die Friedensschlüsse zwischen den alliierten und assoziierten (USA) Mächten und den Unterlegenen des Weltkriegs standen. Sofern diese nicht staatlich fortbestanden, nahmen die Sieger deren Rechtsnachfolger in Haftung. Entsprechend kam es zu Friedensschlüssen — Pariser Vorortverträge genannt — mit dem Deutschen Reich (Versailles, 28.6.19), Österreich (St. Germain, 10.9.19), Bulgarien (Neuilly, 27.11.19), Ungarn (Trianon, 4.7.20) und der Türkei (Svres, 10.8.20).
Rasch realisierten die Deutschen, daß in Versailles keine Verhandlungen in der Tradition der großen europäischen Friedenskongresse geführt würden, statt dessen blieb der deutschen Delegation nur der diplomatische Notenaustausch, der sich letztlich auf die Entgegennahme der Friedensbedingungen beschränkte, die nicht mehr verhandelbar waren, sondern nur angenommen oder — um den Preis der Wiederaufnahme der Feindseligkeiten — abgelehnt werden konnten. Für letzteres blieb nach der völligen Entwaffnung, die bereits durch den Waffenstillstand von Compigne eingetreten war, keine Aussicht auf militärischen Erfolg. Der „karthagische Frieden“ , der das Deutsche Reich nicht nur entwaffnete und durch die Reparationszahlungen auf lange Zeit ökonomisch knebelte, sondern zudem mit dem Odium der Kriegsschuld belud, war für die Deutschen schlechthin unannehmbar. Thomas Mann fand im Tagebuch die folgenden Worte: „Die Einzelheiten, gerade die ins Detail gehenden, sind von einer sadistischen Infamie beseelt, Deutschland auf immer zu entehren, es selbst jeder Ruhmeserinnerung zu berauben.“
Und daß schließlich noch dem Selbstbestimmungsrecht der Völker Hohn gesprochen wurde, indem die Sieger den Beitritt Deutsch-Österreichs zum Deutschen Reich verboten, diskreditierte die Versailler Friedensordnung vollends. Entscheidend sind nicht die einzelnen Bestimmungen, sondern der Geist, der diesen Friedenskongreß bewegte. Es war das Sicherheitsbedürfnis der Französischen Republik, das Europa eine Friedensordnung oktroyierte, von der schnell klar war, daß sie Europa weitere Kriege bescheren würde.
Welche Härte der Bestimmungen hinnehmbar gewesen wäre, bleibt hypothetisch, denn der Verlust von Flotte, Luft- und Panzerwaffe, der Kolonien, wesentlicher Landesteile, von Bodenschätzen und Industrierevieren wog schwer, ebenso die Beschränkung von Souveränität und Wehrhoheit — entmilitarisierte Zonen, geschleifte Festungen und 100000-Mann-Armee ohne Wehrpflicht. Doch ist es schließlich die Kriegsschuldnorm des Artikels 231, die den Frieden inakzeptabel machte. Sollte der dem europäischen „ius gentium“ gemäße Gebrauch des Kriegsinstruments im Jahre 1914 nun, vier Jahre später, tatsächlich ein vorwerfbares, ein geradezu kriminelles Unrecht gewesen sein?
Entsprechend kontrovers verliefen die Diskussionen zwischen der Bekanntgabe am 7. Mai 1919 und der letztlich knappen Annahme der Friedensbedingungen durch die Nationalversammlung am 23. Juni, die der Unterzeichnung im Spiegelsaal zu Versailles am 28. Juni vorausging. Es war nicht von ungefähr der sozialdemokratische Reichsministerpräsident Scheidemann, der hierzu nicht die Hand reichen wollte. Dessen berühmtes Diktum von der „Hand, die verdörren müsse“, sofern sie jenen Vertrag unterschreibe, bezeugt nur zu deutlich die breite Front der Ablehnung jener Bedingungen, und es ist fast verwunderlich, daß sich überhaupt eine Mehrheit für die Annahme fand, deren wesentliches Movens nur darin bestand, Schlimmeres zu verhindern und vor allem die Reichseinheit zu wahren.
Dem Namen „Versailles“ war es damit beschieden, in der deutschen Republik zum meistgeschmähten Begriff aufzusteigen, und in der Ablehnung von Versailles fanden nahezu alle politischen Kräfte und Bewegungen in der Weimarer Zeit zueinander. Entsprechend prestigeträchtig war Hitlers erfolgreicher Kampf gegen „Versailles“, der ihm Zuspruch in allen Lagern sicherte.
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Literatur:
- Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008
- Hans-Christof Kraus: Versailles und die Folgen. Die Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verständigung, Berlin 2013
- Klaus Schwabe (Hg.): Quellen zum Friedensschluß von Versailles, Darmstadt 1997