Wenn es so etwas wie einen Hofhistoriker der Bundesrepublik gibt, dann ist das zumindest für die „Berliner Republik“ seit 1992 Heinrich August Winkler. Sein Buch Der lange Weg nach Westen (2000) ist offiziös-normative Geschichtsschreibung in beispielhafter Form. Sein Wort hat, wenn es um die Weichenstellungen auf dem Weg zur heutigen Bundesrepublik geht, Gewicht.
1999 erinnerte er sich in einem Interview an die sechziger Jahre als die „Jahre des geistigen Aufbruchs“: “Ich erinnere mich lebhaft an den Historikertag von 1964 an der Freien Universität Berlin. Da fand einmal die — wenn Sie so wollen — Befreiungsschlacht in der “Kriegsschuldfrage” statt. Fritz Fischer stand gegen Gerhard Ritter, und Fritz Stern war derjenige, der als Debattenredner den Ausschlag für den Sieg Fritz Fischers gab.”
Die 26. Versammlung Deutscher Historiker, auch Deutscher Historikertag genannt, tagte vom 7. bis zum 11. Oktober 1964 in West-Berlin. Ein zentrales Thema war, neben vielen anderen, die These des Hamburger Historikers Fritz Fischer, daß Deutschland die Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs trage.
Fritz Fischer hatte seit seiner Habilitation 1938 keine Monographie mehr vorgelegt. Er war, was 1964 niemand wußte oder wissen wollte, seit 1933 überzeugter Nationalsozialist gewesen (SA- und NSDAP-Mitglied sowie Anhänger der Deutschen Christen) und verdankte seine Berufung auf eine außerordentliche Professur 1942 in Hamburg dem NS-Historiker Walter Frank und dessen „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“. Seit 1948 war er, nach kurzem Arrest, wieder Professor in Hamburg und forschte mit dem Ziel einer Neubewertung der Rolle Deutschlands am Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
1959 veröffentlichte Fischer einen Aufsatz in der Historischen Zeitschrift als erstes Ergebnis seiner Forschungen. Bis dahin war man davon ausgegangen, daß es in Deutschland keinen Willen zum Krieg gegeben habe, sondern eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen für den Ausbruch verantwortlich gewesen sei. Damit waren auch keine deutschen Kriegsziele als ursächlich für den Krieg anzusehen.
Der Aufsatz Fischers behauptete nun, daß es nicht nur bei den radikalen Alldeutschen, sondern auch in der Reichsführung Einigkeit über Kriegsziele gegeben habe. Was bis dahin als Beitrag zur Erforschung der Lage von 1914 wahrgenommen und kritisiert wurde, machte Fischer in seinem Buch Der Griff nach der Weltmacht 1961 zur ideologischen Frage, die eine geschichtspolitische Debatte auslöste, die sich nur vordergründig um die Frage der Schuld am Ersten Weltkrieg drehte.
Fischer vertrat die Auffassung, daß es eine Kontinuität deutscher Kriegszielpolitik gegeben habe, die nicht erst mit Beginn des Krieges begann, sondern bereits seit langem auf den Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht hingearbeitet habe. Gegen diese Interpretation erhoben konservative Historiker Einspruch, weil sie im Hintergrund die Konstruktion einer großen Kontinuität von Wilhelm II. bis zu Hitler vermuteten, die Rückwirkungen auf die Entstehungsgeschichte des Zweiten Weltkriegs haben mußte. Insbesondere der Freiburger Historiker Gerhard Ritter widersprach Fischer und warnte vor einer „Selbstverdunklung des deutschen Geschichtsbewußtseins“. Unterstützt wurde er dabei u.a. von Egmont Zechlin und Ludwig Dehio.
Ein Vorwurf war, daß Fischer lediglich die deutsche Seite untersucht und alles andere ausgeblendet habe. Der Historiker Michael Freund schrieb 1964 dazu: “Jede Tat ist nur nach der Tat zu begreifen, auf die sie antwortet, jeder Staatsmann nur zu beurteilen nach seinen Gegenspielern. Aber Fischer spottet des Vergleiches. Er läßt das Deutsche Reich und Bethmann Hollweg eine Geisterpartie spielen, auf einem Schachbrett, auf dem nur die weißen Figuren sichtbar sind und auf dem daher nur ein ewiges Angreifen, Vordringen gegen ein unschuldiges Dunkel zu sehen ist. Auf dem Bildschirm Fischers wird gespensterhaft die Kralle des Reiches sichtbar, die nach der Weltmacht greift, in die namenlose Leere.”
1964 wurde die Debatte in der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit weiterbetrieben, was dazu führte, daß Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier Fischer das unnötige Aufwärmen der Schuldfrage vorwarf. Der Historikertag in Berlin 1964 führte jedoch dazu, daß Fischer sich durchsetzen konnte, weil das in der Mehrheit aus Nachwuchshistorikern bestehende Publikum sich anläßlich einer Podiumsdiskussion auf seine Seite stellte. Den Ausschlag gab dabei die Rede Fritz Sterns, der als jüdischer Emigrant weniger sein fachwissenschaftliches als sein moralisches Gewicht in die Waagschale warf.
Zunächst referierte Stern in seiner Rede am 9. Oktober polemisch die traditionelle Auffassung: “Der Mord von Sarajewo kam zu einer Zeit, da andere Spannungen in Europa existierten, und zwar gab es drei Faktoren, die für diese Spannung verantwortlich waren: das serbische Drängen, einen großserbischen Staat zu gründen, den russischen Panslawismus und den französischen Revanchismus. Deutschland, so fährt dieses Argument fort, hat keinen Grund, eine Weltmachtstellung zu erstreben, wörtlich: Es war bereits eine Weltmacht. Es hatte keine territorialen Ansprüche, und niemand in Wien oder Berlin dachte auch nur an den Krieg. Es scheint, als ob man die These von einer Allein-Unschuld Deutschlands aufstellen wollte. Sie werden glauben, daß dieses Bild eine von mir erfundene Karikatur sei. Diese Auffassung, die ich hier getreu referiert habe, ist von einem der führenden Historiker der Bundesrepublik in der für das Ausland bestimmten “Deutschen Korrespondenz” am 4. Juli dieses Jahres publiziert worden.”
Damit meinte Stern Walther Hubatsch. Entscheidend war aber ein anderer Satz von Stern: “Ist die Kontinuität von Absichten und Hoffnungen, von Stil und Zielen, nicht geradezu verblüffend?” Damit meinte er die eigentliche Stoßrichtung von Fischers These: Daß es eben eine Kontinuität gegeben habe, die von der Entfesselung des Ersten Weltkriegs durch Deutschland bis zum Vernichtungskrieg im Osten 1941 reiche. Gegen diese Geschichtsdeutung verstummte der Protest nicht so bald. Aber es waren Rückzugsgefechte, wenn beispielsweise Franz Josef Strauß die Bundesregierung aufforderte, gegen diese „Verzerrung der Geschichte“ vorzugehen.
Fischer selbst spitzte seine Thesen im Verlauf der Debatte immer weiter zu, so daß er schließlich von der Hauptschuld zur Alleinschuld der deutschen Regierung am Kriegsausbruch gelangte. Auch wenn er sich mit dieser Extremposition in der Historikerzunft nicht durchsetzen konnte, wurde diese Auffassung im Laufe der Jahre schließlich zur gültigen Auffassung in Öffentlichkeit und Schule. Damit wurde die alliierte Propagandalüge, die seit 1914 nichts anderes behauptet hatte, zur historischen Wahrheit erhoben. Es war aber anders: Deutschland brauchte 1914 keinen Krieg, die Entente hingegen hatte Ziele, die sich nur mit einem Krieg erreichen ließen: Serbien wollte Bosnien-Herzegowina, Rußland die Dardanellen, Frankreich Elsaß-Lothringen und England die Ausschaltung Deutschlands als wirtschaftlichen Konkurrenten.
Jede ernstzunehmende neuere Veröffentlichung zum Ersten Weltkrieg setzt sich mittlerweile von Fischers These ab (schon allein deshalb, weil auch die alliierte Vorkriegspolitik betrachtet wird). Doch das bedeutet noch nicht, daß die Wirksamkeit dieser These nachgelassen hätte. Das Gegenteil wird deutlich, wenn Herfried Münkler in seiner vielgelobten Gesamtdarstellung Der Große Krieg Fischers These als radikal und überzogen kritisiert, gleichzeitig aber feststellt: “Für das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik freilich haben Fischers Thesen zunächst eine wichtige Funktion gehabt: Wenn nämlich, wie Fischer erklärte, der Weg in den Ersten Weltkrieg keine Folge von Zufällen und Fehleinschätzungen, sondern von der politisch-militärischen Elite zielstrebig verfolgt wurde, waren die Deutschen auch für die anschließende Geschichte verantwortlich.”
Die Brisanz dieser Feststellung macht die Frage deutlich: Was, wenn Deutschland nicht die Hauptschuld am Ersten Weltkrieg trug, sondern maximal eine Mitschuld oder gar unschuldig war? Darf man dann die Behauptung Münklers umdrehen: Wenn nämlich der Weg in den Ersten Weltkrieg eine Folge von Zufällen und Fehleinschätzungen (oder bewußter Bemühungen der Entente) war, sind dann die Deutschen auch nicht für die anschließende Geschichte verantwortlich (bzw. tragen die Alliierten die Verantwortung dafür)?
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Literatur:
- Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013
- Institut für Staatspolitik (Hrsg.): Deutsche Kriegsschuld 1914? Revision einer hundertjährigen Debatte, Schnellroda 2014
- Wolfgang Jäger: Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914–1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1984
- Sean McMeekin: Juli 1914. Der Countdown in den Krieg, Berlin 2014