Abendland

Abend­land ist die tra­di­tionelle Beze­ich­nung für den west­lichen und mit­tleren Teil Europas, der nach dem Zusam­men­bruch des Weströmis­chen Reich­es im 5. Jahrhun­dert geprägt wurde von der Land­nahme und Staaten­bil­dung der ger­man­is­chen Völk­er sowie der Durch­set­zung des lateinis­chen Chris­ten­tums. Während die Antike geo­graphisch auf den Mit­telmeer­raum konzen­tri­ert war und auch Nordafri­ka und Kleinasien zu ihrem Ein­flußge­bi­et zählten, ver­schob sich nun die Achse nach Nor­den, wur­den die Träger – Griechen und Römer – durch andere abgelöst und entwick­elte sich ein bis dahin unbekan­ntes Gemein­schafts­ge­fühl.

Das speiste vor allem die Feind­schaft des Islams, der seit dem 7. Jahrhun­dert über die mediter­rane Gegenküste und die Beset­zung der Iberischen Hal­binsel das Abend­land bedro­hte. Aus diesem Zusam­men­hang erk­lärt sich weit­er die Wichtigkeit der Kreuz­züge für die Fes­ti­gung der abendländis­chen Iden­tität. Deren innere Aus­gestal­tung war vor allem bes­timmt von ein­er durch das Chris­ten­tum ver­mit­tel­ten Hochschätzung der men­schlichen Indi­vid­u­al­ität und Ethisierung der Lebens­führung. Im Hochmit­te­lal­ter kamen die entsprechen­den Ide­ale im Bild des Rit­ters als miles chris­tianus und der Dame deut­lich zum Aus­druck.

Ver­glichen mit der Abgren­zung zum Islam war die zum europäis­chen Osten weniger scharf. Allerd­ings ver­lief eine erkennbare Kul­tur­gren­ze zwis­chen den von Rom und den von Byzanz aus chris­tian­isierten Völk­ern: hier lateinis­che Schrift und Sprache, katholis­ches Chris­ten­tum, Tren­nung von kirch­lich­er und weltlich­er Macht, dort griechis­che beziehungsweise kyril­lis­che Schrift, griechis­che Sprache beziehungsweise Kirchenslaw­isch, ortho­dox­es Chris­ten­tum, Cäsaropa­pis­mus. Die Kon­fronta­tion ver­lor nach dem Unter­gang des Byzan­ti­nis­chen Reich­es im Kampf mit den Türken an Bedeu­tung. Dafür ent­stand umge­hend ein neuar­tiges Prob­lem im Inneren des Abend­lan­des als Folge der Ref­or­ma­tion, die während des 16. Jahrhun­derts eine Glaubenss­pal­tung her­auf­beschwor und eine Folge von Kon­fes­sion­skriegen aus­löste, in denen die religiöse Ein­heit voll­ständig zer­brach.

Obwohl in der Kon­se­quenz Dies­seit­igkeit der Lebens­führung und weltliche Begrün­dung des Staatsin­ter­ess­es all­ge­mein akzep­tiert wur­den, erhielt sich die Idee eines christlichen Abend­lan­des schwäch­er wer­dend bis ins 20. Jahrhun­dert. Noch der Impe­ri­al­is­mus wurde ver­bre­it­et als abendländis­che Herrschaft über die nichtabendländis­che Welt ver­standen. Der­ar­tige Auf­fas­sun­gen erhiel­ten aber mit dem Ersten Weltkrieg, der vor allem ein Krieg inner­halb des Abend­lan­des war, ihren Todesstoß. Beze­ich­nen­der­weise ist der Begriff »Abend­land« über­haupt erst im Zusam­men­hang mit Spen­glers Rede vom »Unter­gang des Abend­lan­des« (Dekadenz) stärk­er gebräuch­lich gewor­den. Dabei war nicht zu überse­hen, daß dessen Vorstel­lung vom »Faustis­chen« als dem »Ursym­bol« der abendländis­chen Seele zu ein­er drama­tis­chen Ver­schiebung gegenüber dem gewöhn­lichen Ver­ständ­nis abendländis­ch­er Iden­tität führte.

Spätere Ver­suche, beson­ders von katholis­ch­er Seite, einen »Abend­land-Gedanken« ins Spiel zu brin­gen – zur Ver­hin­derung eines weit­eren »Brud­erkrieges«, zur Abwehr des kom­mu­nis­tis­chen Ostens, zur Erneuerung der Reich­sidee – scheit­erten an der fak­tis­chen Macht­losigkeit sein­er Träger. Nicht ein­mal eine entsprechende ide­ol­o­gis­che Unter­füt­terung der Europa-Idee gelang. Deren antik-hei­d­nis­che, human­itäre, aufk­lärerische, geopoli­tis­che, prag­ma­tis­che oder tech­nokratis­che Konzep­tion war mit Über­liefer­un­gen nicht auszu­gle­ichen, die sich an die Vorstel­lung vom Abend­land knüpften.

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Zitate:

Es waren schöne glänzende Zeit­en, wo Europa ein christlich­es Land war, wo Eine Chris­ten­heit diesen men­schlich gestal­teten Welt­teil bewohnte; Ein großes gemein­schaftlich­es Inter­esse ver­band die entle­gen­sten Prov­inzen dieses weit­en geistlichen Reichs.
Novalis

Let­ztes Ziel abendländis­chen Denkens war immer, durch vernün­ftige Zusam­me­nar­beit »Kirche« und »Reich« zu bilden.
Her­mann Platz

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Lit­er­atur:

  • Christo­pher Daw­son: Die Gestal­tung des Abend­lan­des [1932/1935], zulet­zt Frank­furt a.M. 1961.
  • Novalis: Die Chris­ten­heit oder Europa [1799], Werke, Bd. 2, Köln 1996.
  • Her­mann Platz: Deutsch­land, Frankre­ich und die Idee des Abend­lan­des, Köln 1924.
  • Karl Anton Prinz Rohan: Öster­re­ichisch – Deutsch – Europäisch, Bod­man 1973.
  • Georg Smol­ka: Abendländis­che Ein­heit – Europäis­che Wirk­lichkeit, Sig­marin­gen 1989.