Das eigenständige Volk — Max Hildebert Boehm, 1932

Die aus dem Ersten Weltkrieg resul­tieren­den Gren­zver­schiebun­gen hat­ten vie­len Deutschen gezeigt, daß der Bestand eines starken Nation­al­staates nicht selb­stver­ständlich war. Manche deutschen Volk­steile fan­den sich nun als Min­der­heit­en in frem­den Nation­al­staat­en wieder und waren gezwun­gen, ihre eth­nis­che Iden­tität und ihre Inter­essen auch ohne den Rück­halt
eines eige­nen Staates behaupten zu müssen. Das ist der Hin­ter­grund für den Ver­such des bal­tendeutschen Poli­tik­wis­senschaftlers und Sozi­olo­gen Max Hilde­bert Boehm, der poli­tis­chen Staat­s­the­o­rie eine eigene »Volk­s­the­o­rie« an die Seite zu stellen, in der neben den Staat­en auch die Völk­er als poli­tis­che Sub­jek­te auftreten.

Boehm ging dabei von einem empirisch­phänom­e­nol­o­gis­chen Volks­be­griff aus. Er sah das Volk­liche als eigene Dimen­sion neben dem Staatlichen, Gesellschaftlichen, Sprach­lichen oder Ras­sis­chen. Nicht ein einzelnes Merk­mal, wie die Abstam­mung oder die Sprache, ist für die Volk­szuge­hörigkeit entschei­dend. Unter beson­deren Leben­sum­stän­den, in Gren­zge­bi­eten oder bei Auswan­der­ern, kommt auch die per­sön­liche Entschei­dung zum Tra­gen. Der Volk­s­tum­swech­sel ist aber durch das indi­vidu­elle Alter und den eth­nis­chen Abstand begren­zt – ein Deutsch­er kann wohl Fran­zose wer­den, aber kein Chi­nese –, bedarf der Akzep­tanz durch das aufnehmende Volk und gelingt voll­ständig erst für die nach­fol­gen­den Gen­er­a­tio­nen. Die Prä­gung durch das Volk ist vor allem eine unbe­wußte, und zum Teil unwider­ru­flich.

Boehm wandte sich gegen den Rassenide­al­is­mus Hans F. K. Gün­thers, der das reale Volk zugun­sten eines unerr­e­ich­baren ras­sis­chen Ideals abw­ertete. Im einzel­nen befaßte sich Boehm aus­führlich mit der poli­tis­chen Ver­faßtheit von Völk­ern und Volks­grup­pen und der Geschichte und dem Wirk­lichkeits­ge­halt von Begrif­f­en wie Volks­geist, Volk­s­tum oder Volkscharak­ter.
Indem er auf eine ein­deutige Def­i­n­i­tion verzichtete, gelang ihm mit seinem phänom­e­nol­o­gis­chen Zugriff eine real­is­tis­che Beschrei­bung des poli­tis­chen Wesens der nicht­staatlichen, eigen­ständi­gen eth­nis­chen Gemein­schaft. Die Lek­türe von Boehms Werk wird allerd­ings für den heuti­gen Leser durch seine teil­weise eigen­willige, allzu aufge­fächerte Ter­mi­nolo­gie erschw­ert (»volk­lich«, »volkhaft« und so weit­er).

Boehms im Früh­jahr 1932 erschienenes Buch wurde vor allem von Volk­skundlern und Volks­grup­pen­vertretern begrüßt, fand aber unter den Sozi­olo­gen nur wenig Wider­hall. Nach der »Machtüber­nahme« der Nation­al­sozial­is­ten hoffte Boehm, seine Volk­s­the­o­rie in die nation­al­sozial­is­tis­che Wis­senschaft inte­gri­eren zu kön­nen, was aber an den von den Nation­al­sozial­is­ten klar erkan­nten Unter­schieden zu ihrer Ide­olo­gie scheit­erte. In den ersten Jahrzehn­ten nach dem Krieg hat­te Das  eigen­ständi­ge Volk zunächst noch den Rang eines Stan­dard­w­erkes, wie die 1965 erschienene unverän­derte Neuau­flage in der Wis­senschaftlichen Buchge­mein­schaft bezeugt. Danach geri­et es in Vergessen­heit und fand nur noch gele­gentlich als Gegen­stand meist linkslastiger Ver­gan­gen­heit­sa­u­far­beitung Inter­esse. Den­noch ist es nach wie vor für jeden Kon­ser­v­a­tiv­en, der sich mit dem Begriff des eth­nis­chen Volkes inner­halb Europas befaßt, unverzicht­bar.

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Zitat:

Psy­chol­o­gisch gesprochen hat die Volk­szuge­hörigkeit als Wesens­bes­timmtheit ihren Sitz im Unwillkür­lichen. Dort »ver­rät« sie sich – durch eine Gebärde, einen Ton­fall, einen spon­ta­nen Gefühlsaus­bruch – ger­ade auch in dem Fall, wo das Indi­vidu­um sich Mühe gibt, sie zu ver­ber­gen. Deswe­gen ist der Men­sch auf dem Boden seines eige­nen Volk­s­tums echt, er ist dort zu Hause, während eine affek­tierte oder »erwor­bene« Volk­szuge­hörigkeit ihn zwingt, zum min­desten einen Teil sein­er Natur zu ver­leug­nen und seinem Wesen Gewalt anzu­tun.

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Aus­gabe:

  • Neuaus­gabe mit dem Unter­ti­tel »Grundle­gung der Ele­mente ein­er europäis­chen Völk­er­sozi­olo­gie« und einem aus­führlichen Geleit­wort Boehms, Darm­stadt: WBG 1965