Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation — Hugo von Hofmannsthal

Man muß kein Anhänger der Behaup­tung Theodor Less­ings sein, um  einzugeste­hen, daß die Geschichte (oder genauer gesagt: die Geschichtss­chrei­bung) manch­mal eine »Sin­nge­bung des Sinnlosen« sei. Keines­falls sinn­los aber ist Hugo von Hof­mannsthals Ver­such aus dem Jahre 1927, eine bes­timmte, in ihrer Dynamik und Ruh­elosigkeit ger­adezu chao­tis­che Geis­te­saufwal­lung sein­er Zeit zu benen­nen und mit dieser Namensge­bung ihre »Ein­heit« zu ver­bür­gen: »Der Prozeß, von dem ich rede, ist nichts anderes als eine kon­ser­v­a­tive Rev­o­lu­tion von einem Umfange, wie die europäis­che Geschichte ihn nicht ken­nt.«

Kon­ser­v­a­tive Rev­o­lu­tion – Hof­mannsthal ist nicht der Schöpfer dieses Begriffs, aber neben Arthur Moeller van den Bruck und Karl Anton Prinz Rohan ein­er der Trans­mis­sion­sriemen. Durchge­set­zt hat ihn let­ztlich Armin Mohler mit seinem Stan­dard­w­erk aus dem Jahr 1950 (Die Kon­ser­v­a­tive Rev­o­lu­tion in Deutsch­land 1918–1932).

Das Schrift­tum als geistiger Raum der Nation ist als Rede im Audi­to­ri­um max­i­mum der Uni­ver­sität München am 10. Jan­u­ar 1927 gehal­ten und noch im sel­ben Jahr in aus­ge­sprochen schön­er Form gedruckt wor­den. Hof­mannsthal mutet seinen Zuhör­ern wenige Jahre nach dem Ende der franzö­sis­chen Ruhrbe­set­zung einiges zu: Er ver­weist darauf, daß die Lit­er­atur den Fran­zosen ihre Wirk­lichkeit ver­bürge, ihr »Nation­staat« erscheine dadurch als ein inneres Uni­ver­sum und jeden­falls als »das gedrun­gene Gegen­stück zur deutschen Zer­fahren­heit«. Diese deutschen, gegen das »Gesellschaftliche« gerichteten, »ver­ant­wor­tungs­be­lade­nen und doch ver­ant­wor­tungslosen« Köpfe benen­nt Hof­mannsthal zunächst mit einem Niet­zschewort als »die Suchen­den«, denen er die selb­stzufriede­nen und an ein­er Entwick­lung nicht inter­essierten »deutschen Bil­dungsphilis­ter« gegenüber­stellt. Es seien aber die Suchen­den, die inner­halb der Nation die notwendi­ge Span­nung her­vor­riefen und ihr Gewis­sen wach­hiel­ten.

Hof­mannsthal lobt die »Kraft und Gesund­heit dieses Gewis­sens, seine deutsche Kühn­heit, daß es wieder ein­mal seine Schiffe hin­ter sich ver­bren­nt«, und fordert dazu auf, die »Träger dieser pro­duk­tiv­en Anar­chie« als »Gemein­schaft«, als Ein­heit zu begreifen. Als Vor­bilder ruft er den »Sturm und Drang« und die »Roman­tik« an, um ger­ade dage­gen die Suchen­den sein­er Zeit abzuset­zen: Sie kennze­ichne »ein Miß­trauen gegen das unver­ant­wortlich Speku­la­tive und ein Miß­trauen auch gegen das unver­ant­wortlich Musikan­tis­che, etwas Fanatis­ches und Asketis­ches, ein die Hast ver­schmähen­des, aus­dauernd resig­niertes Wesen«, und er gipfelt in dem Satz: »Denn nicht Frei­heit ist es, was sie zu suchen aus sind, son­dern Bindung.«

Hof­mannsthals Rede ste­ht am Ende seines poli­tis­chen Engage­ments, das er unter dem Ein­druck des Ersten Weltkriegs aufgenom­men hat­te. Es kam ihm stets darauf an, Gegen­sätze zu verbinden und in ihrer Span­nung weit­erzuen­twick­eln, ohne eine destruk­tive Ent­ladung zuzu­lassen: Schon während des Krieges forderte er gegen den nation­al­is­tis­chen Ver­nich­tungswillen »ein neues europäis­ches Ich«; er bemühte sich um eine Über­brück­ung der Kluft zwis­chen den Gebilde­ten und dem ein­fachen Volk und gab die Inspi­ra­tion zur Grün­dung der Salzburg­er Fest­spiele. In sein­er Rede ver­suchte er, das Radikale und Unbe­d­ingte im Schrift­tum der »Suchen­den« nicht abzu­tun, son­dern ihm einen Sinn zu geben und den kon­ser­v­a­tiv­en Anteil an ihrer Rev­o­lu­tion zu beto­nen. Zu Recht hat deshalb Karl­heinz Weiß­mann darauf hingewiesen, daß Hof­mannsthal bewußt ent­ge­gen früher­er Beze­ich­nun­gen eines »rev­o­lu­tionären Kon­ser­vatismus« von der »kon­ser­v­a­tiv­en Rev­o­lu­tion« gesprochen habe: Der Akzent sei dadurch weg vom Dynamis­chen, hin zum Sta­tis­chen ver­schoben – eben­so sprach­sen­si­bel wie ver­ant­wor­tungs­be­wußt.

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Zitat:

Das Leben wird nur leb­bar durch gültige Bindun­gen.

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Aus­gabe:

  • Gesam­melte Werke, Bd. 10 (Reden und Auf­sätze III), Frank­furt a. M.: Fis­ch­er 1980, S. 24–41.

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Lit­er­atur:

  • Wal­ter Hof: Der Weg zum Hero­is­chen Real­is­mus, Beben­hausen 1974
  • Armin Mohler/Karlheinz Weiß­mann: Die Kon­ser­v­a­tive Rev­o­lu­tion in Deutsch­land 1918–1932, 6., völ­lig über­ar­beit­ete und erweit­erte Auflage, Graz 2005