Die Arbeit tun die anderen — Helmut Schelsky, 1975

Entste­hung und Wirkung dieses Buch­es sind nicht ohne die anti­au­toritäre und linksin­tellek­tuelle Revolte nach 1968 zu ver­ste­hen. Gegen die utopis­chen Entwürfe, die damals All­ge­meingut waren, set­zte Schel­sky die These, daß sich aus der Intel­li­genz eine neue soziale Klasse formiert hat. Ihr Ziel ist die monop­o­lisierte geistige Herrschaft, ihre Botschaft eine neue Reli­gion des sozialen Heils, ihre Form ein neuer Klerus, ihr Mit­tel Bewußt­seins­bear­beitung.

Mit Hil­fe der Kat­e­gorien der Ver­ste­hen­den Sozi­olo­gie Max Webers begrün­det der Autor, wie sich das Prob­lem in ähn­lich­er Form durch die gesamte men­schliche Geschichte zieht, sei es doch der »uralte Wider­stre­it von geistlich­er und weltlich­er Herrschaft in mod­ernem Gewande«, der Machtkampf von »Sinn- und Heilsver­mit­tlern im Gegen­satz zur Klasse der Pro­duzen­ten lebenswichtiger Güter«.

Schel­sky unter­mauert seine The­sen mit zahllosen konkreten und illus­tra­tiv­en Beispie­len aus der jüng­sten Geschichte der Bun­desre­pub­lik. Dage­gen erachtet er die vor­ge­tra­gene sozial­is­tis­che bzw. link­sex­trem­istis­che Ide­olo­gie der Protest­be­we­gung als »Tar­nung « ihrer wirk­lichen Absicht­en und deshalb nicht disku­tier­würdig. Im Zen­trum ste­ht die Charak­ter­is­tik der neuen »Reflex­ion­selite« als sozialer Gestalt, ihrer Ursachen und Wirkungsweisen, ihrer Träger, Mei­n­ungs­führer und Gefol­gschaften, ihrer Heils­botschaften und Feind­bilder.

Als all­ge­mein­er kul­tur- und zeit­geschichtlich­er Hin­ter­grund zeigt sich ein bei vie­len Intellek­tuellen ver­bre­it­etes Unbe­ha­gen an der mod­er­nen Zivil­i­sa­tion und der geistige Abbau der Kirchen, bei­des führt zu ein­er »Tran­szen­denz ins Dies­seits« (Arnold Gehlen), d.h. zu pro­fanierten Heil­shoff­nun­gen und ‑per­spek­tiv­en. Die neue Heil­slehre bezieht ihre Quellen aus ein­er Über­schätzung,
ja Ver­got­tung der Gesellschaft, weit­er aus ein­er »Wirk­lichkeit­sen­tweitung im Dien­ste über­zo­gen­er, außer­alltäglich­er und arbeits­freier Ide­ale«, schließlich der Verken­nung und Ver­leum­dung der Gewinne der Moder­nität. Demge­genüber gel­ten ihr Frieden und Wohl­stand als gesicherte öffentliche Güter und nicht mehr als primäre Staat­sauf­gaben. Ihre erk­lärten Geg­n­er heißen sach­be­zo­gene und wert­freie Wis­senschaft, mod­erne Tech­nolo­gie, die poli­tis­che und wirtschaftliche Macht, fern­er die Kirchen als ihre Konkur­renten auf dem Felde der Ethik. Der neue »Klerus« kon­sti­tu­iert sich aus den – auch quan­ti­ta­tiv immens wach­senden – lehren­den, informieren­den und heilsverkün­den­den Berufen, die zwar als Sin­nver­mit­tler in ein­er kom­plex­en Großge­sellschaft unent­behrlich, als Heils­bringer aber gefährlich sind, insoweit sie nor­ma­tive Grun­dentschei­dun­gen erfahrungs­fern an sich zu reißen suchen (in Uni­ver­sitäten und Schulen, Kun­st und Lit­er­atur, Ver­la­gen und Medi­en, in der Unter­hal­tungsin­dus­trie; ein beson­deres Kapi­tel wid­met Schel­sky sein­er eige­nen Diszi­plin, der Sozi­olo­gie und ihren Mitläufern in Päd­a­gogik, The­olo­gie und Pub­lizis­tik, welche die Frei­heit der Per­son konzep­tionell wegar­beit­en).

Schel­sky scheute sich nicht, der neuen Klasse der Sin­nge­ber Aus­beu­tung der pro­duk­tiv­en Arbeit und Ein­brüche in die Pri­vat­sphäre vorzuw­er­fen und kri­tisiert ihre illu­sionären Ver­sprechun­gen: Zuge­hörigkeit zu ein­er fik­tiv­en Fam­i­lie (der Men­schheit oder der Unter­drück­ten), Befreiung vom Leis­tungs­druck, Ver­heißun­gen ein­er all­ge­meinen Herrschaft der Ver­nun­ft, Emanzi­pa­tion durch poli­tis­che Bil­dung etc. Eines ihrer typ­is­chen Mit­tel im neuen »Klassenkampf« ist die Ver­wen­dung eines Sprach­codes aus Abstrak­tio­nen, Gemein­plätzen und Dif­famierun­gen, der klare und exk­lu­sive Fre­und-Feind-Lin­ien zieht und die Real­ität immer schlecht ausse­hen läßt.

Abschließend zeich­net Schel­sky das düstere Bild ein­er total­en »Belehrung, Betreu­ung, Bepla­nung« von unselb­ständig gemacht­en Men­schen, ohne daß insti­tu­tionelle Kon­trol­linstanzen – wie sie die Gewal­tenteilung und der Sozial­staat im poli­tisch-ökonomis­chen Bere­ich darstellen – für entsprechende Gegen­macht sor­gen. Dieses Deu­tungsmonopol bedeutet geschichtssozi­ol­o­gisch einen Rückschritt hin­ter die von der Aufk­lärung geleis­tete Befreiung von der kirch­lichen Bevor­mundung, eine »Reprim­i­tivisierung«. Die Selb­stetiket­tierung der neuen Klasse als Aufk­lär­er und Ratio­nal­is­ten wäre dann, zu Ende gedacht, nichts weit­er als die zynis­che Ver­schleierung ein­er neuen priester­lichen Gewaltherrschaft »von Men­schen über Men­schen«, die früher oder später mit
dem Staat in Kon­flikt ger­at­en wird.

Obwohl, oder ger­ade weil Schel­sky mit Die Arbeit tun die anderen einen Best­seller veröf­fentlicht hat­te, war die Auf­nahme bei den »Sinns­tiftern« selb­st über­wiegend ablehnend, zurück­hal­tend, ignori­erend. Wenig doku­men­tiert ist die Res­o­nanz in der poli­tisch-wirtschaftlichen Führungsebene.

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Zitat:

Eine qua­si-religiöse Glauben­sh­errschaft kann in mod­er­nen Staat­en nur noch zum Zuge kom­men, wenn Ratio­nal­ität selb­st zu einem Glaubensin­halt umgew­ertet und ihre Anwen­dung zu einem Herrschaftsmonopol ein­er bes­timmten Gruppe wird.

Aus­gabe:

  • Taschen­buch, München: dtv 1977

Lit­er­atur:

  • Horst Baier (Hrsg.): Hel­mut Schel­sky – ein Sozi­ologe in der Bun­desre­pub­lik. Eine Gedächt­niss­chrift von Fre­un­den, Kol­le­gen und Schülern, Stuttgart 1986