Die geistige Situation der Zeit — Karl Jaspers, 1931

Karl Jaspers’€™ Ruf als hell­sichtiger Beobachter sein­er Zeit stammt aus der End­phase der Weimar­er Repub­lik. Als das 1000. Bänd­chen der berühmten Göschen-Rei­he anstand, bat der Ver­lag Jaspers, seit 1922 Ordi­nar­ius für Philoso­phie in Hei­del­berg, um einen Text zur Sit­u­a­tion der Zeit. Er kon­nte dazu auf seine Vor­lesun­gen »Ein­führung in die Philoso­phie« vom Ende der zwanziger Jahre zurück­greifen, in denen er seine Philoso­phie an der Analyse der Gegen­wart erprobte. Jaspers, der damals sehr sparsam pub­lizierte, trat mit der Geisti­gen Sit­u­a­tion der Zeit erst­mals einem größeren Pub­likum gegenüber. Das Buch war bere­its 1930 fer­tiggestellt, Jaspers veröf­fentlichte es jedoch erst, als er seine dreibändi­ge Philoso­phie (1932) abgeschlossen hat­te, die gle­ich­sam eine aus­führliche philosophis­che Begrün­dung des pop­ulären Bänd­chens enthält.

Die »geistige Sit­u­a­tion« ist bei Jaspers weniger auf die konkrete Sit­u­a­tion der aus­ge­hen­den Weimar­er Repub­lik und ihre Hil­flosigkeit angesichts der kom­mu­nis­tis­chen und nation­al­sozial­is­tis­chen Bedro­hung bezo­gen, als vielmehr auf die Sit­u­a­tion des Men­schen über­haupt. Diesen hat – spätestens seit der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion und den Geistesströ­mungen, die zu ihr hin­führen – der Gedanke ereilt, daß das men­schliche Dasein und die Gesellschaft nicht als gegeben hin­genom­men wer­den müssen, son­dern plan­mäßig mit­tels Ver­nun­ft so ein­gerichtet wer­den kön­nen, wie es eigentlich sein soll. Zu diesem »epochalen Bewußt­sein« treten als Schat­ten­seite die »eigen­ständi­gen Geis­ter voll bösen Ahnens«, die Vertreter kon­ser­v­a­tiv­er Fortschrittskri­tik, zum »zufriede­nen Pub­likum« hinzu. Sie sehen die Men­schheit auf dem Weg in Massen­herrschaft, Demokratie und Dekadenz. Als die bei­den wichtig­sten Kri­tik­er stellt Jaspers Niet­zsche und Kierkegaard her­aus.

Drei Prinzip­i­en waren es laut Jaspers, die den »abendländis­chen Men­schen« aus der tra­di­tionellen Welt entwach­sen und die Welt erobern ließen: Ratio­nal­ität, Sub­jek­tiv­ität und Dies­seit­igkeit. Damit ist ein Prozeß eröffnet, der lin­ear ver­läuft und die »Sta­bil­ität des bloß in sich kreisenden Wieder­holens« auss­chließt. Um die geistige Sit­u­a­tion zu erfassen, genügt es nicht, sich lediglich auf das konkrete Dasein des Men­schen in der poli­tis­chen, ökonomis­chen und sozi­ol­o­gis­chen Sit­u­a­tion zu beschränken. Hinzu kom­men muß die gewollte »Klarheit des Wis­sens«, die über das Augen­schein­liche hin­aus­ge­ht, sowie die Sit­u­a­tion der eige­nen Per­son, die sich aus der Begeg­nung mit anderen Men­schen und der »Glaubens­möglichkeit«, an welche diese appel­lieren, ergibt. Diese »geistige Sit­u­a­tion« will Jaspers erhellen, nicht rekon­stru­ieren, indem er die sicht­baren Zustände gedanklich auf die Spitze treibt, um in ihnen die zuge­hörige »ganz andere Sein­sebene zum Vorschein« zu brin­gen. Damit wen­det Jaspers hier erst­mals die Meth­ode an, die er in sein­er Philoso­phie als Exis­ten­z­er­hel­lung aus­führlich begrün­det.

Jaspers beschreibt zunächst die »Gren­zen der Dasein­sor­d­nung«, wie sie sich im Zeital­ter der Massen darstellen, gekennze­ich­net durch die Tech­nik und den zuge­höri­gen Appa­rat. Die »eigentlich men­schliche Dasein­swelt« und damit das Pri­vatleben wer­den zer­stört, Entschei­dun­gen ver­mieden, Autorität und Ver­trauen geschwächt, die Sit­u­a­tion ver­schleiert. Im Hin­ter­grund ste­ht die Erwartung, daß sich durch Tech­nik und Ratio­nal­ität eine »beständi­ge Dasein­sor­d­nung« erricht­en läßt, was aber, so Jaspers, unmöglich ist, weil es dem men­schlichen Wesen nicht entspricht. Eben­so skep­tisch beurteilt er die Möglichkeit­en, die Masse zum Träger der Demokratie zu machen, was eine Ein­sicht in die Ver­ant­wor­tung voraus­set­zt.

Masse ist dabei kein unauswe­ich­lich­es Schick­sal, man kann ihr als einzel­ner dur­chaus ent­ge­hen. Den Schlüs­sel sieht Jaspers in der Erziehung, in der Bil­dung und im Staat, der sich den Forderun­gen der Masse ent­ge­gen­stellen soll. Der Philoso­phie kommt dabei eine zen­trale Auf­gabe zu: Sie muß die Irrlehren Marx­is­mus, Rassen­the­o­rie und Psy­cho­analyse ablehnen, weil diese jew­eils eine Seite des Men­schen ver­ab­so­lu­tieren und so die Vol­lend­barkeit der Welt behaupten. Dage­gen set­zt Jaspers die Exis­ten­zphiloso­phie als das »alle Sachkunde nutzende, aber über­schre­i­t­ende Denken, durch das der Men­sch er selb­st wer­den möchte«. Insofern legt Jaspers die geistige Sit­u­a­tion in die Ver­ant­wor­tung des einzel­nen, der sich nicht mit einem Verbesserung­spro­gramm für die Welt her­ausre­den kann, son­dern bei sich selb­st begin­nen muß.

Jaspers wollte seine Schrift als eine »erweck­ende Prog­nose« ver­standen wis­sen und damit einen Appell an den einzel­nen for­mulieren. Die Schrift traf damit einen Nerv der Zeit; inner­halb von zwei Jahren waren 50 000 Exem­plare verkauft. Während der Beschrei­bung der Sit­u­a­tion lagerüber­greifend zuges­timmt wurde, gab es Kri­tik, weil die Schrift keine Hand­lungsan­leitung enthielt. Darin liegt jedoch ger­ade ihre andauernde Gültigkeit, die bis heute gegeben ist, obwohl sie in ein­er konkreten Sit­u­a­tion geschrieben wurde, die wir heute nur als Anfang vom Ende begreifen.

Als der 1000. Band der »edi­tion suhrkamp« anstand, ini­ti­ierte Jür­gen Haber­mas eine zweibändi­ge Auf­satzsamm­lung Stich­worte zur Geisti­gen Sit­u­a­tion der Zeit (1979), in der sich alles zu Wort meldete, was auf dem linkslib­eralen Spek­trum Rang und Namen hat­te. Mit Kri­tik an Jaspers wurde nicht ges­part, man spürte in seinem Büch­lein von 1931 die Geg­n­er­schaft, die auch durch die poli­tis­chen Schriften Jaspers’€™ nach 1945 nicht abge­golten war.

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Zitat:

Es ist die erschüt­ternde Sit­u­a­tion des mod­er­nen Men­schen, wenn er an sein Volk in den Gestal­ten, durch die es seine gegen­wär­tige Objek­tiv­ität hat und seine Ansprüche kundg­ibt, nicht mehr glauben kann, son­dern in tief­ere Schicht hin­un­ter­tauchen muß, aus der er entwed­er die sub­stantielle Geschichtlichkeit seines Seins her­vorholt oder ins Boden­lose taumelt.

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Aus­gabe:

  • 9. Nach­druck der im Som­mer 1932 bear­beit­eten 5. Auflage, Berlin/New York: de Gruyter 1999

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Lit­er­atur:

  • Hans San­er (Hrsg.): Karl Jaspers in der Diskus­sion, München 1973