Die Ursprünge der totalitären Demokratie — Jacob Talmon,1952

Der Begriff »total­itäre Demokratie« klingt für die meis­ten unge­wohnt, gewohnt sind wir die Unter­schei­dung von »Total­i­taris­mus« und »Demokratie« im Sinne eines Gegen­satzes. Die Analyse des israelis­chen His­torik­ers Tal­mon hebt allerd­ings auf einen früh von kon­ser­v­a­tiv­en wie lib­eralen Denkern erkan­nten Unter­schied zwis­chen Demokratie und Frei­heit ab und darauf, daß zwar die angel­säch­sis­chen Rev­o­lu­tio­nen des 17. und 18. Jahrhun­derts im Namen des Volkes auf­trat­en und Frei­heit erkämpften, die franzö­sis­che aber im Namen des Volkes eine Tyran­nis errichtete, die nicht ein­fach als Fehlen­twick­lung betra­chtet wer­den kann, son­dern als logis­che  Kon­se­quenz ein­er bes­timmten Auf­fas­sung von Demokratie zu sehen ist.

Den elitären Sys­te­men Eng­lands und Nor­damerikas, die auf der Selb­st­bes­tim­mung des Indi­vidu­ums und dessen Schutz durch staatliche Machtbeschränkung mit Hil­fe von Checks and bal­ances fußten, stand ein Entwurf iden­titär­er Demokratie gegenüber, die Abwe­ichung als Ver­rat betra­chtete und entsprechend unter­drück­te, um die Homogen­ität des Volkes not­falls mit Hil­fe von Zwang und Indok­tri­na­tion aufrechtzuer­hal­ten.

Dieses Konzept fußte vor allem auf Ideen Rousseaus, dem zufolge nicht der »Wille aller«, son­dern der »Gemein­wille« für die Ord­nung des Staates maßge­blich sein sollte. Robe­spierre war Rousseaus gelehriger Schüler und set­zte während der Phase des jakobinis­chen Ter­rors in die Prax­is um, was bis dahin nur The­o­rie gewe­sen war. Zwar kon­nte sich sein Regime nur für kurze Zeit hal­ten, aber es diente den Anhängern der »total­itären Demokratie« als Mod­ell, das sie in immer neuen Anläufen zu ver­wirk­lichen tra­chteten. Tal­mon weist in sein­er Darstel­lung nach, daß sich fast alle Ver­suche zur voll­ständi­gen Inte­gra­tion der Mas­sen­ge­sellschaft im 19. Jahrhun­dert auf die Ver­fahren der »total­itären Demokratie« rück­be­zo­gen, daß es zwar Mäßi­gungsver­suche gab – etwa in Gestalt des Bona­partismus –, aber im 20. Jahrhun­dert mit Kom­mu­nis­mus und Nation­al­sozial­is­mus Bewe­gun­gen ent­standen, die die Real­isierung mit­tels Radikalisierung umset­zen woll­ten.

Deshalb betont Tal­mon ent­ge­gen der üblichen Auf­fas­sung, daß der Erfolg der großen Total­i­taris­men nicht infolge ihres undemokratis­chen, son­dern ihres demokratis­chen Charak­ters zus­tande gekom­men sei. Sie appel­lierten erfol­gre­ich an den »kleinen Mann«, seine Ein­satz- und Einord­nungs­bere­itschaft, seinen Sinn für Gle­ich­heit ein­er­seits, Hier­ar­chie ander­er­seits, und an seine Sehn­sucht nach dem »großen Mann«, der die Krise, welch­er die Mas­sen­ge­sellschaft ihre Entste­hung ver­dank­te, abzuschnei­den oder in eine neue Epoche zu über­führen ver­mochte.

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Zitat:

Von uns aus gese­hen – von einem Beobach­tungspunkt in der Mitte des zwanzig­sten Jahrhun­derts – erscheint in der Tat die Geschichte der let­zten hun­dert­fün­fzig Jahre als die sys­tem­a­tis­che Vor­bere­itung auf den schrof­fen Zusam­men­prall zwis­chen empirisch­er und lib­eraler Demokratie ein­er­seits und total­itär­er mes­sian­is­ch­er Demokratie ander­er­seits – und das ist die Weltkrise von heute.

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Lit­er­atur:

  • Hans Otto Seitschek: Poli­tis­ch­er Mes­sian­is­mus. Total­i­taris­muskri­tik und Geschichtss­chrei­bung im Anschluß an Jacob Leib Tal­mon, Pader­born 2005
  • Jacob Tal­mon: Poli­tis­ch­er Mes­sian­is­mus. Die roman­tis­che Phase, Köln/Opladen 1963