Hirsch, Emanuel, Theologe, 1888–1972

Selb­st seinem the­ol­o­gis­chen und poli­tis­chen Haupt­geg­n­er Karl Barth erschien er als außergewöhn­lich „gelehrter und scharf­sin­niger Mann“, und für Wolf­gang Trill­haas, einen der weni­gen, die sich mit ihm wis­senschaftlich befaßten, als  „der let­zte Fürst der … evan­ge­lis­chen The­olo­gie“. Son­st ist der Ton­fall der Urteile über Emanuel Hirsch im all­ge­meinen neg­a­tiv und scharf verurteilend. Denn Hirsch erscheint als leben­der Wider­spruch zu der These, daß der Faschis­mus beziehungsweise Nation­al­sozial­is­mus per se geist­feindlich und the­o­rie­un­fähig gewe­sen sei. Der „Nazi-Intellek­tuelle“ (Robert P. Erick­sen) hat­te sich 1933 – wie son­st nur noch Hei­deg­ger, Schmitt oder Benn – rück­halt­los auf die Seite Hitlers und des NS-Regimes gestellt und anders als die genan­nten seine Posi­tion auch nicht mehr rev­i­diert.

Als junger Dozent und seit 1921 Pro­fes­sor für Kirchengeschichte galt Hirsch, geboren am 14. Juni 1888 in Ben­twisch (bei Wit­ten­berge), in erster Lin­ie als Träger der von seinem Lehrer Karl Holl ein­geleit­eten „Luther­re­nais­sance“. Allerd­ings war bei Hirsch in der Nachkriegszeit schon eine gewisse Akzentver­schiebung zu erken­nen, die man im Grunde nur als Neuauf­nahme lib­eraler Vorstel­lun­gen deuten kon­nte. Er betonte jeden­falls, daß es notwendig sei, zwis­chen der „Dialek­tis­chen The­olo­gie“ und dem „jun­gen Luther­tum“ zu ver­mit­teln. Ein Grund für seine Bemühun­gen in dieser Rich­tung war weniger the­ol­o­gis­ch­er, eher poli­tis­ch­er, im Grunde the­ol­o­gisch-poli­tis­ch­er Natur. Denn Hirsch gehörte zu denen, die nicht nur unter der Kriegsnieder­lage und dem Ver­sailler Ver­trag lit­ten, son­dern die auch nicht ver­wan­den, daß das Auguster­leb­nis von 1914 ohne bleibende Bedeu­tung für die Volks­ge­mein­schaft geblieben war. Schon in seinem 1920 erschiene­nen Buch Deutsch­lands Schick­sal – das bis 1925 drei Aufla­gen erlebte – hat­te er seine Posi­tion unmißver­ständlich zum Aus­druck gebracht und sich als Vertreter der Kon­ser­v­a­tiv­en Rev­o­lu­tion zu erken­nen gegeben. Allerd­ings war Hirschs Kri­tik der Weimar­er Repub­lik in der Hin­sicht gemäßigt, daß er die Legit­im­ität der neuen Ver­hält­nisse prinzip­iell anerkan­nte, voraus­ge­set­zt sie erwiesen sich tüchtig, den Deutschen zum Wieder­auf­stieg zu ver­helfen.

Bis zum Beginn der dreißiger Jahre hielt Hirsch an dieser Posi­tion fest und galt neben dem ihm eng ver­bun­de­nen Paul Althaus als führen­der Kopf der Jungkon­ser­v­a­tiv­en im deutschen Protes­tantismus. Öffentlich bekan­nte er sich bis 1932 zur DNVP, nahm dann allerd­ings vor der Reich­spräsi­dentschaftswahl gegen Hin­den­burg und für Hitler Stel­lung. Der Vor­gang erregte Auf­se­hen und führte zu schar­fen Angrif­f­en auf Hirsch, die ihn aber unbeein­druckt ließen. Er begrün­dete in dem Buch Von christlich­er Frei­heit (1934) seinen Schritt the­ol­o­gisch und ver­wies auf die Notwendigkeit der wagen­den Entschei­dung.

Zwis­chen Hirschs the­ol­o­gis­chen Auf­fas­sun­gen und denen einiger sein­er schärf­sten Geg­n­er bestand allerd­ings nicht sel­ten eine struk­turelle Ähn­lichkeit. Denn es gab bei ihm nicht nur die Nähe zu allen, die darauf behar­rten, daß Gottes Han­deln für den Chris­ten in der Geschichte ables­bar bleiben müsse, son­dern auch eine Art Deck­ungs­gle­ich­heit mit dem Pro­gramm der „Ent­mythol­o­gisierung“ und der Vorstel­lung vom „mündi­gen Chris­ten­tum“. Was den ersten Punkt bet­rifft, so hat Hirsch nicht nur dezi­diert zu Gun­sten Bult­manns Stel­lung genom­men und ver­langt, daß jene „mythen­z­er­störende Reflex­ion“ vor­angetrieben werde, die mit der his­torischen Bibelkri­tik ihren Anfang genom­men habe. Es gibt bei ihm auch For­mulierun­gen, die fast denen Bon­ho­ef­fers gle­ichen, der im Kern wie Hirsch davon aus­ging, daß sich das „Wahrheitsver­ständ­nis“ seit der Aufk­lärung ein für alle­mal verän­dert habe und die tradierten Vorstel­lun­gen von Gott, Kirche und Glaube nicht mehr aufrechtzuer­hal­ten seien.

Daß das alles gemein­hin überse­hen wird, hat in erster Lin­ie damit zu tun, daß die the­ol­o­gis­che Entwick­lung Hirschs in den dreißiger und frühen vierziger Jahren verdeckt wird durch die Hart­näck­igkeit, mit der er an sein­er Auf­fas­sung von Gottes Tat an Hitler und dem Nation­al­sozial­is­mus fes­thielt und die Vorstel­lung vertei­digte, daß sich mit Hil­fe der „Glaubens­be­we­gung Deutsche Chris­ten“ (DC) der notwendi­ge kirch­liche Neuansatz bew­erk­stel­li­gen lasse. Tat­säch­lich war Hirsch – abge­se­hen von Ger­hard Kit­tel – der einzige evan­ge­lis­che The­ologe von Rang, der sich zur DC hielt, und in sein­er Zeit als Dekan der Göt­tinger The­ol­o­gis­chen Fakultät, wo er 1936 den Lehrstuhl für Sys­tem­atik über­nom­men hat­te, ver­suchte er auch das Pro­gramm des Reich­skirchen­min­is­teri­ums gegen alle Wider­stände der „Beken­nen­den“ durchzuset­zen. Nach seinem Rück­tritt als Dekan, 1939, zog Hirsch sich zwar weit­ge­hend auf die wis­senschaftliche Arbeit zurück, aber daraus kann nicht auf einen Gesin­nungswan­del geschlossen wer­den. Das gute Dutzend Büch­er, das er zwis­chen 1933 und 1943 abfaßte, diente vor allem dem Zweck, eine Bilanz der Entwick­lung des Chris­ten­tums zu ziehen und die Frage zu klären, welche Wege in Zukun­ft noch gang­bar seien. In diesen Zusam­men­hang gehören auch das für jeden The­olo­gen bis heute unverzicht­bare Hil­fs­buch zum Studi­um der Dog­matik (1937).

Man muß die außeror­dentliche Leis­tung Hirschs auch angesichts der Tat­sache würdi­gen, daß er schon in sein­er Jugend ein Auge ver­loren und auf dem anderen seit Beginn der dreißiger Jahre erblind­et war. Als er am 30. Mai 1945 einen Antrag stellte, wegen Dien­stun­fähigkeit aus dem Amt zu schei­den, war der eigentliche Grund allerd­ings, daß er die Ent­naz­i­fizierung umge­hen wollte. Es gab später Ver­suche, ihn reg­ulär zu emer­i­tieren, die aber alle fehlschlu­gen. Hirsch hat trotz­dem seine wis­senschaftliche – und in steigen­dem Maß – seine schrift­stel­lerische Tätigkeit fort­ge­set­zt. Abge­se­hen davon, daß seine Hauptwerke wegen ihres Rangs immer weit­er erschienen und einige neuere Arbeit­en – etwa die magis­trale, fünf Bände umfassende, Geschichte der neueren evan­ge­lis­chen The­olo­gie (1949–1954) oder Haupt­fra­gen christlich­er Reli­gion­sphiloso­phie (1963) — ohne Zögern von großen Ver­la­gen in ihr Pro­gramm aufgenom­men wur­den, hat­te Hirsch eine Art „Gemeinde“ (um den Ver­lag „Die Spur“), die auch eine ambi­tion­ierte, bis in die Gegen­wart fort­ge­set­zte, Gesam­taus­gabe vorantrieb, und ähn­lich wie Schmitt einen „Hof“ und einen engeren Kreis von Anhängern, die sich um den großen Ver­femten sam­melten und mehr oder weniger offen zu ihm bekan­nten.

Emanuel Hirsch ver­starb am 17. Juli 1972 in Göt­tin­gen.

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Zitat:

Es kommt zulet­zt nicht darauf an, ob eine Per­son, ein Name geehrt und gepriesen und für lange nicht vergessen werde. Ob man von dem Ewigen als bloße Gegenkraft gegen über­mächtige Strö­mungen des Geschehens gebraucht wird oder als tri­um­phierend voran­rol­lende Welle oder als ein kleineren Wellen nach­fol­gen­der großer Brech­er, das darf einen in aller­let­ztem Betra­cht nicht küm­mern: wenn man nur von ihm gebraucht wird, so oder so.

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Schriften:

  • Ficht­es Reli­gion­sphiloso­phie im Rah­men der philosophis­chen Gesam­ten­twick­lung Ficht­es, Göt­tin­gen 1914
  • Chris­ten­tum und Geschichte in Ficht­es Philoso­phie, Tübin­gen 1920; Deutsch­lands Schick­sal, Göt­tin­gen 1920
  • Die gegen­wär­tige geistige Lage, Göt­tin­gen 1934
  • Christliche Frei­heit und poli­tis­che Bindung, Ham­burg 1935
  • Hil­fs­buch zum Studi­um der Dog­matik, 1937 (4. Aufl. 2002)
  • Die Umfor­mung des christlichen Denkens in der Neuzeit, Tübin­gen 1938
  • Geschichte der neuern evan­ge­lis­chen The­olo­gie im Zusam­men­hang mit den all­ge­meinen Bewe­gun­gen des europäis­chen Denkens, 5 Bde, Güter­sloh 1949–54 (5. Aufl. 1975)
  • Haupt­fra­gen christlich­er Reli­gion­sphiloso­phie, Berlin 1963

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Lit­er­atur:

  • Ulrich Barth: Die Chris­tolo­gie Emanuel Hirschs, Berlin 1992
  • Robert P. Erick­sen: The­olo­gen unter Hitler: Das Bünd­nis zwis­chen evan­ge­lis­ch­er Dog­matik und Nation­al­sozial­is­mus, München 1986
  • Joachim Ringleben (Hrsg.): Chris­ten­tums­geschichte und Wahrheits­be­wußt­sein: Stu­di­en zur The­olo­gie Emanuel Hirschs, Berlin 1991