Entfremdung

Ent­frem­dung wird fast nur als Begriff der marx­is­tis­chen Ide­olo­gie gese­hen, die die Sit­u­a­tion des Men­schen grund­sät­zlich als »ent­fremdet« auf­faßt, sobald der gezwun­gen ist, sich Pro­duk­tion­sprozessen zu unter­w­er­fen, die er nicht selb­st bes­tim­men kann. Allerd­ings han­delt es sich in bezug auf den Begriff (und auch in bezug auf die entschei­dende Denk­fig­ur) um eine Über­nahme aus der ide­al­is­tis­chen Tra­di­tion, die ihrer­seits alle Her­vor­bringun­gen des Geistes als »ent­fremdet« ansah und dem Men­schen seine durch Ent­frem­dung ver­lorene Frei­heit mit­tels Wieder­aneig­nung zurück­zugeben tra­chtete.

In diesem Zusam­men­hang wird immer­hin deut­lich­er als im marx­is­tis­chen, daß es sich im Ursprung um einen the­ol­o­gis­chen Begriff han­delte. Für Augusti­nus etwa bedeutete Ent­frem­dung zuerst und vor allem Selb­st-Ent­frem­dung, das heißt Ent­frem­dung von Gott durch die Sünde. Alles, was der Men­sch son­st noch als Ent­frem­dung wahrnehme, erk­läre sich aus dieser gestörten Grund­beziehung, die von seit­en des Men­schen nicht kor­rigiert wer­den könne, son­dern nur aufge­hoben in Gottes erlösender Tat.

Dieser skep­tis­chen Grun­dein­schätzung fol­gt der Kon­ser­vatismus, insofern er keine voll­ständi­ge Besei­t­i­gung von Ent­frem­dung für möglich erachtet. Seine Skep­sis gegenüber den Ver­sprechun­gen der Linken wie der Lib­eralen resul­tiert aus der Ein­sicht in den utopis­chen Charak­ter ihrer Pos­tu­late. Die Bedin­gun­gen men­schlich­er Exis­tenz erlauben keine absolute Selb­st­bes­tim­mung; so sehr die Wahrnehmung von Ent­frem­dung schmerzen mag, sie ist nicht voll­ständig zu beseit­i­gen, und Ver­suche, das doch zu tun, schla­gen regelmäßig in ihr Gegen­teil um.

Allerd­ings geht nur eine Min­der­heit der kon­ser­v­a­tiv­en The­o­retik­er – gemeint sind in erster Lin­ie Arnold Gehlen und Han­no Kest­ing – so weit, die Ent­frem­dung grund­sät­zlich als wohltuend zu betra­cht­en, das heißt vom Vor­rang der Insti­tu­tio­nen in der Weise auszuge­hen, daß allein »die Geburt der Frei­heit aus der Ent­frem­dung« behauptet wer­den könne. Frei­heit ist nach diesem Ver­ständ­nis über­haupt bloß möglich, soweit sie mit den Exis­tenzbe­din­gun­gen der Insti­tu­tio­nen vere­in­bar bleibt.

Was dabei aus dem Blick zu ger­at­en dro­ht, ist das Aus­maß des formieren­den Zwangs, den die Insti­tu­tio­nen in der tech­nis­chen Zivil­i­sa­tion ausüben. Hans Frey­er hat in sein­er »The­o­rie des gegen­wär­ti­gen Zeital­ters« jeden­falls darauf aufmerk­sam gemacht, daß die älteren For­men men­schlich­er Verge­mein­schaf­tung – »ratio­nale Gebilde auf gewach­sen­em Grund« – immer stärk­er abgelöst wür­den durch über­mächtige »sekundäre Sys­teme«, die nicht nur einen unge­heuren Diszi­plin­ierungs­druck auf den Men­schen ausübten, son­dern auch eine innere Verö­dung förderten, die his­torisch ohne Beispiel sei.

Alle For­men kon­ser­v­a­tiv­er Kul­turkri­tik – nicht zulet­zt die Ansätze kon­ser­v­a­tiv­er Ökolo­giekri­tik (Umwelt) – speisen sich aus dieser Wahrnehmung. Sie set­zen min­destens voraus, daß es ver­schiedene Maße der Ent­frem­dung gibt und daß dur­chaus die Möglichkeit beste­ht, Ver­hält­nisse zu schaf­fen, in denen die Bedin­gun­gen von Ent­frem­dung angemessen­er gestal­tet wären als in den gegen­wär­ti­gen.

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Zitate:

Denkt man näm­lich den Men­schen (und dazu beste­ht guter Grund) als ein Wesen, das voller Impulse und Reak­tions­bere­itschaften steckt, das zwar immer von Insti­tu­tio­nen einge­hegt, gehal­ten und deter­miniert war, aber von ihnen auch immer mit Inhal­ten und Antrieben erfüllt wor­den ist, so hät­ten wir hier, im Mod­ell »sekundär­er Sys­teme«, einen Men­schen vor uns, der insofern sein Men­schen­tum ver­loren hat, jeden­falls ihm stark ent­fremdet ist.
Hans Frey­er

Ihr Ver­stand ist verfin­stert, und sie sind ent­fremdet dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwis­senheit, die in ihnen ist, und durch die Ver­stock­ung ihres Herzens.
Paulus

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Lit­er­atur:

  • Hans Frey­er: The­o­rie des gegen­wär­ti­gen Zeital­ters [1955], zulet­zt Stuttgart 1967.
  • Arnold Gehlen: Über die Geburt der Frei­heit aus der Ent­frem­dung [1952], in ders.: Gesam­taus­gabe, Bd 4, Frank­furt a. M. 1983, S. 366–379.