1973 publizierte Topitsch in der FAZ einen Artikel mit dem Titel „Aufklärung als konservative Aufgabe“. Damit ist sowohl das Selbstverständnis wie auch die Leitlinie vor allem seiner späteren Arbeiten deutlich signalisiert. Seit 1941 hatte der junge Topitsch, geboren am 20. März 1919 in Wien, am Rußlandfeldzug teilgenommen. Dessen Schrecken brannten sich ihm unauslöschlich ein. Er gehörte einer Division an, die in Stalingrad ihren Untergang fand. Die Geschichtsdynamik des 20. Jahrhunderts zu erkennen, sollte von hier her ein zentrales Anliegen von Topitsch sein.
Man kann bei Topitsch deutlich eine liberale von einer konservativen Phase unterscheiden. Die Zäsur manifestiert sich, wie bei vielen Angehörigen seiner Generation mit dem Jahr 1968. Der Wechsel von Heidelberg, wo er seit 1962 als Ordinarius für Soziologie installiert war und sich damit auch den Traditionen Max Webers verpflichtet sah, nach Graz, wo er künftig einen Lehrstuhl für Philosophie innehaben sollte, im Jahr 1969 markiert diesen Einschnitt auch in der äußerlichen Vita.
1946 war Topitsch mit einer Arbeit über das Geschichtsverständnis von Thukydides promoviert worden, die Habilitation war fünf Jahre später mit einer Arbeit über Das Problem der Wertbegründung unter der Ägide von Viktor Kraft, dem wichtigsten überlebenden Vertreter des Wiener Kreises erfolgt. Seither lehrte er bis zu der Berufung nach Heidelberg in Wien als Privatdozent und Außerplanmäßiger Professor. Im Zentrum von Topitschs Analysen steht die Zielsetzung einer Entmystifizierung und Entfanatisierung des Denkens im Namen nüchterner Wissenschaftlichkeit. Kritischer Rationalismus in der Nähe zu Karl R. Popper wird Topitsch zum Instrument der Ideologiekritik. Sie richtete sich zunächst gegen die Abendlands- und Restaurationsideologien im Österreich der Nachkriegszeit, und seit Mitte der sechziger Jahre verstärkt gegen Marxismus und Neomarxismus. Insbesondere die Dialektik im Ausgang von Hegel suchte Topitsch als Hexenwerk und ideologischen Verschleierungsmechanismus zu decouvrieren, ohne ihr damit philosophisch irgend gerecht zu werden. Im Anschluss an Poppers Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1946/47) konstruierte er eine Folge von Hegel zu Hitler, aber auch zu Marx und Stalin. Der Marxismus ist im Sinne von Topitsch pseudoreligiöser Messianismus, verschleierte reine Machtpolitik, die sich hinter den Phrasen von „Menschheitsbefreiung und Menschheitsbeglückung“ kaschiere. Die scharfe Kritik setzt Topitsch allerdings schon bei der Kantischen Transzendentalphilosophie an.
Neben Popper waren der Wiener Philosoph Hans Gomperz aber auch der Doyen der reinen Rechtslehre, Hans Kelsen, für Topitsch Methodik maßgeblich. Sie besteht darin, Leerformeln hinter nebulösen Wortkaskaden bzw. die unaufhebbare Widersprüchlichkeit der Dialektik aufzudecken. Auch wenn man die Topitschsche Basis, den logischen Empirismus, nicht akzeptieren kann, wird man seinen Einzelanalysen, u.a. zu Hegel, Marx, Habermas, aber auch Carl Schmitt zuerkennen müssen, daß sie argumentative Schwächen aufspüren. Religiöse politische und philosophische Heilslehren hat Topitsch prägnant, wenn auch im einzelnen zu undifferenziert, zu demaskieren gewusst. Eine enge Freundschaft verband Topitsch mit dem Kritischen Rationalisten Hans Albert. Er stand außerdem im Kontakt zu einem Kreis von Philosophen, zu dem unter anderem auch Paul Feyerabend, der Wittgensteinschüler Georg Henrik von Wright und der erkenntnistheoretische Anarchist Paul Feyerabend gehörten. Gemeinsam verstanden sie sich als Zentrum eines Kraft-Kreises in der Folge des von den Nationalsozialisten aus Wien vertriebenen einstigen Wiener Kreises.
Am Ende seines Lebens kehrte Topitsch mit der Studie Stalins Krieg (1985) noch einmal zu dem Antriebsgrund seiner Forschungen zurück. Topitschs Ausgangsbehauptung war, „daß der ganze Krieg in seinem politischen Kern ein Angriff der Sowjetunion gegen die westlichen Demokratien war, bei dem Deutschland und später auch Japan dem Kreml nur als militärische Werkzeuge dienten“. Stalin sei mithin auch Urheber des Mythos vom Überfall auf die Sowjetunion. Er habe den Vormarsch in heimtückisch kaltem Kalkül zugelassen, um damit geschichtspolitisch vollendete Tatsachen zu schaffen. Biographischer Rückblick auf die eigene Teilnahme am Rußlandfeldzug, Ehrenrettung der Wehrmacht und Geschichtsdeutung halten sich in diesem späten Buch die Waage. Er verstand sich bis zuletzt als „Partisan der Geistesfreiheit“ und beklagte die „Diskussionsverweigerung“ in einer, so seine Anmutung, von Political Correctness geprägten Öffentlichkeit und Historikerzunft.
Ernst Topitsch verstarb 26. Januar 2003 in Graz.
– — –
Zitat:
Herrschaft kann sich nun nicht mehr durch Berufung auf die Wahrheit (oder auf ‚ewige Wahrheiten’) legitimieren noch kann sie über Wahr und Falsch entscheiden. So ist das Prinzip objektiver Erkenntnis allen verhaßt, welche totale Macht besitzen oder anstreben, und es ist ein Rückhalt für alle, die sich einer solchen Macht widersetzen.
– — –
Schriften:
- Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, München 1972
- Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, München 21981
- Die Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie. Kant in weltanschauungskritischer Beleuchtung, Tübingen 21992
- Erkenntnis und Illusion, Tübingen 21992
- Stalins Krieg. Moskaus Griff nach der Weltherrschaft, Herford 1985
- Heil und Zeit. Ein Kapitel zur Weltanschauungsanalyse, Tübingen 1990
- Im Irrgarten der Zeitgeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 2003
- Überprüfbarkeit und Beliebigkeit. Die beiden letzten Abhandlungen des Autors, mit Würdigung und Nachruf herausgegeben von Karl Acham, Wien 2005
– — –
Literatur:
- Joachim Kahl: Positivismus als Konservatismus. Eine philosophische Studie zu Struktur und Funktion der positivistischen Denkweise am Beispiel Ernst Topitsch, Köln 1976
- Kurt Salamun (Hrsg.): Sozialphilosophie als Aufklärung. Festschrift für Ernst Topitsch, Tübingen 1979
- Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, Sonderheft 8, 2004: Ernst Topitsch