Topitsch, Ernst — Soziologe, 1919–2003

1973 pub­lizierte Top­itsch in der FAZ einen Artikel mit dem Titel „Aufk­lärung als kon­ser­v­a­tive Auf­gabe“. Damit ist sowohl das Selb­stver­ständ­nis wie auch die Leitlin­ie vor allem sein­er späteren Arbeit­en deut­lich sig­nal­isiert. Seit 1941 hat­te der junge Top­itsch, geboren am 20. März 1919 in Wien, am Ruß­land­feldzug teilgenom­men. Dessen Schreck­en bran­nten sich ihm unaus­löschlich ein. Er gehörte ein­er Divi­sion an, die in Stal­in­grad ihren Unter­gang fand. Die Geschichts­dy­namik des 20. Jahrhun­derts zu erken­nen, sollte von hier her ein zen­trales Anliegen von Top­itsch sein.

Man kann bei Top­itsch deut­lich eine lib­erale von ein­er kon­ser­v­a­tiv­en Phase unter­schei­den. Die Zäsur man­i­festiert sich, wie bei vie­len Ange­höri­gen sein­er Gen­er­a­tion mit dem Jahr 1968. Der Wech­sel von Hei­del­berg, wo er seit 1962 als Ordi­nar­ius für Sozi­olo­gie instal­liert war und sich damit auch den Tra­di­tio­nen Max Webers verpflichtet sah, nach Graz, wo er kün­ftig einen Lehrstuhl für Philoso­phie innehaben sollte, im Jahr 1969 markiert diesen Ein­schnitt auch in der äußer­lichen Vita.

1946 war Top­itsch mit ein­er Arbeit über das Geschichtsver­ständ­nis von Thuky­dides pro­moviert wor­den, die Habil­i­ta­tion war fünf Jahre später mit ein­er Arbeit über Das Prob­lem der Wert­be­grün­dung unter der Ägide von Vik­tor Kraft, dem wichtig­sten über­leben­den Vertreter des Wiener Kreis­es erfol­gt. Sei­ther lehrte er bis zu der Beru­fung nach Hei­del­berg in Wien als Pri­vat­dozent und Außer­plan­mäßiger Pro­fes­sor. Im Zen­trum von Top­itschs Analy­sen ste­ht die Zielset­zung ein­er Ent­mys­ti­fizierung und Ent­fa­natisierung des Denkens im Namen nüchtern­er Wis­senschaftlichkeit. Kri­tis­ch­er Ratio­nal­is­mus in der Nähe zu Karl R. Pop­per wird Top­itsch zum Instru­ment der Ide­olo­giekri­tik. Sie richtete sich zunächst gegen die Abend­lands- und Restau­ra­tionsid­e­olo­gien im Öster­re­ich der Nachkriegszeit, und seit Mitte der sechziger Jahre ver­stärkt gegen Marx­is­mus und Neo­marx­is­mus. Ins­beson­dere die Dialek­tik im Aus­gang von Hegel suchte Top­itsch als Hex­en­werk und ide­ol­o­gis­chen Ver­schleierungsmech­a­nis­mus zu decou­vri­eren, ohne ihr damit philosophisch irgend gerecht zu wer­den. Im Anschluss an Pop­pers Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1946/47) kon­stru­ierte er eine Folge von Hegel zu Hitler, aber auch zu Marx und Stal­in. Der Marx­is­mus ist im Sinne von Top­itsch pseudore­ligiös­er Mes­sian­is­mus, ver­schleierte reine Macht­poli­tik, die sich hin­ter den Phrasen von „Men­schheits­be­freiung und Men­schheits­beglück­ung“ kaschiere. Die scharfe Kri­tik set­zt Top­itsch allerd­ings schon bei der Kan­tis­chen Tran­szen­den­tal­philoso­phie an.

Neben Pop­per waren der Wiener Philosoph Hans Gom­perz aber auch der Doyen der reinen Recht­slehre, Hans Kelsen, für Top­itsch Methodik maßge­blich. Sie beste­ht darin, Leer­formeln hin­ter neb­ulösen Wortkaskaden bzw. die unaufheb­bare Wider­sprüch­lichkeit der Dialek­tik aufzudeck­en. Auch wenn man die Top­itschsche Basis, den logis­chen Empiris­mus, nicht akzep­tieren kann, wird man seinen Einze­l­analy­sen, u.a. zu Hegel, Marx, Haber­mas, aber auch Carl Schmitt zuerken­nen müssen, daß sie argu­men­ta­tive Schwächen auf­spüren. Religiöse poli­tis­che und philosophis­che Heil­slehren hat Top­itsch präg­nant, wenn auch im einzel­nen zu undif­feren­ziert, zu demask­ieren gewusst. Eine enge Fre­und­schaft ver­band Top­itsch mit dem Kri­tis­chen Ratio­nal­is­ten Hans Albert. Er stand außer­dem im Kon­takt zu einem Kreis von Philosophen, zu dem  unter anderem auch Paul Fey­er­abend, der Wittgen­stein­schüler Georg Hen­rik von Wright und der erken­nt­nis­the­o­retis­che Anar­chist Paul Fey­er­abend gehörten. Gemein­sam ver­standen sie sich als Zen­trum eines Kraft-Kreis­es in der Folge des von den Nation­al­sozial­is­ten aus Wien ver­triebe­nen ein­sti­gen Wiener Kreis­es.

Am Ende seines Lebens kehrte Top­itsch mit der Studie Stal­ins Krieg (1985) noch ein­mal zu dem Antrieb­s­grund sein­er Forschun­gen zurück. Top­itschs Aus­gangs­be­haup­tung war, „daß der ganze Krieg in seinem poli­tis­chen Kern ein Angriff der Sow­je­tu­nion gegen die west­lichen Demokra­tien war, bei dem Deutsch­land und später auch Japan dem Kreml nur als mil­itärische Werkzeuge dien­ten“. Stal­in sei mithin auch Urhe­ber des Mythos vom Über­fall auf die Sow­je­tu­nion. Er habe den Vor­marsch in heimtück­isch kaltem Kalkül zuge­lassen, um damit geschicht­spoli­tisch vol­len­dete Tat­sachen zu schaf­fen. Biographis­ch­er Rück­blick auf die eigene Teil­nahme am Ruß­land­feldzug, Ehren­ret­tung der Wehrma­cht und Geschichts­deu­tung hal­ten sich in diesem späten Buch die Waage. Er ver­stand sich bis zulet­zt als „Par­ti­san der Geis­tes­frei­heit“ und beklagte die „Diskus­sionsver­weigerung“ in ein­er, so seine Anmu­tung, von Polit­i­cal Cor­rect­ness geprägten Öffentlichkeit und His­torik­erzun­ft.

Ernst Top­itsch ver­starb 26. Jan­u­ar 2003 in Graz.

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Zitat:

Herrschaft kann sich nun nicht mehr durch Beru­fung auf die Wahrheit (oder auf ‚ewige Wahrheit­en’) legit­imieren noch kann sie über Wahr und Falsch entschei­den. So ist das Prinzip objek­tiv­er Erken­nt­nis allen ver­haßt, welche totale Macht besitzen oder anstreben, und es ist ein Rück­halt für alle, die sich ein­er solchen Macht wider­set­zen.

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Schriften:

  • Vom Ursprung und Ende der Meta­physik, München 1972
  • Die Sozial­philoso­phie Hegels als Heil­slehre und Herrschaft­side­olo­gie, München 21981
  • Die Voraus­set­zun­gen der Tran­szen­den­tal­philoso­phie. Kant in weltan­schau­ungskri­tis­ch­er Beleuch­tung, Tübin­gen 21992
  • Erken­nt­nis und Illu­sion, Tübin­gen 21992
  • Stal­ins Krieg. Moskaus Griff nach der Weltherrschaft, Her­ford 1985
  • Heil und Zeit. Ein Kapi­tel zur Weltan­schau­ungs­analyse, Tübin­gen 1990
  • Im Irrgarten der Zeit­geschichte. Aus­gewählte Auf­sätze, Berlin 2003
  • Über­prüf­barkeit und Beliebigkeit. Die bei­den let­zten Abhand­lun­gen des Autors, mit Würdi­gung und Nachruf her­aus­gegeben von Karl Acham, Wien 2005

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Lit­er­atur:

  • Joachim Kahl: Pos­i­tivis­mus als Kon­ser­vatismus. Eine philosophis­che Studie zu Struk­tur und Funk­tion der pos­i­tivis­tis­chen Denkweise am Beispiel Ernst Top­itsch, Köln 1976
  • Kurt Sala­mun (Hrsg.): Sozial­philoso­phie als Aufk­lärung. Festschrift für Ernst Top­itsch, Tübin­gen 1979
  • Aufk­lärung und Kri­tik. Zeitschrift für freies Denken und human­is­tis­che Philoso­phie, Son­der­heft 8, 2004: Ernst Top­itsch