Gemeinschaft ist in Folge der großen Arbeit über Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) von Ferdinand Tönnies zum soziologischen Schlüsselbegriff geworden. Nach Meinung von Tönnies bezeichnet die Gemeinschaft alle menschlichen Gruppen, deren Mitglieder in erster Linie durch Gefühle verbunden sind. Es handelt sich also um das, was die angelsächsische Sozialwissenschaft “Primärgruppen” (Charles H. Cooley) nennt, wie etwa die Familie, aber auch Stamm, Volk oder Glaubensgemeinschaft gehören in diesen Zusammenhang.
Die Gemeinschaft wird durch Übereinstimmung in Herkunft oder Wohnort besonders gestärkt, ihr Leben bestimmt “gegenseitiger Besitz und Genuß, und ist Besitz und Genuß gemeinsamer Güter”. Vorhandensein und Bedeutung der Gemeinschaft für die Entwicklung des Menschen sind kaum in Frage zu stellen. Sie gilt in vieler Hinsicht als “natürlich” (Natur) oder “organisch”. Die Ähnlichkeit mit tierischen Sozialformen — etwa der Paar- oder Rudelbildung — ist offenkundig und wurde durch die moderne Verhaltensbiologie wiederholt bestätigt.
Seine eigentliche Brisanz erhielt das Modell von Tönnies denn auch nicht durch die Feststellung von Gemeinschaftsformen, sondern durch die Behauptung, daß die Gemeinschaft im Zuge des Modernisierungsprozesses (Moderne) zwangsläufig an Bedeutung verliere. Gemeinschaft, so seine Annahme, büßten im Gefolge einer alle Lebensbereiche ergreifenden Rationalisierung ihre Funktionstüchtigkeit ein. Die Menschen verstünden sich seit dem Beginn der Neuzeit immer weniger als Glieder von Gemeinschaft, eher als einzelne, die mit anderen einzelnen in vertragsähnliche Beziehungen treten, die dem individuellen Nutzenkalkül entsprechen und in hohem Maß rechtlich definiert werden können.
Auf diese Weise komme es zu einer immer stärkeren Durchsetzung der Gesellschaft, einem “Kreis von Menschen”, sagt Tönnies, “welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleibend trotz aller Verbundenheiten”.
Tönnies selbst hielt diesen Vorgang für bedauerlich, aber unabwendbar. Trotzdem wurde sein Buch — beziehungsweise die aus dem Titel abgeleitete Parole — auch als Appell begriffen, den Verfall der Gemeinschaft aufzuhalten. Zu solchen Anstrengungen darf man die Jugendbewegungen der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (Wandervogel, Pfadfinder) genauso zählen wie die konservativ-revolutionären Projekte der Zwischenkriegszeit (Bünde, korporativer Neuaufbau, Freiwilliger Arbeitsdienst) beziehungsweise entsprechende philosophische Bemühungen um den Ganzheitscharakter (Ganzheit) der Gemeinschaft, bis hin zum “Personalismus”, zu dessen bedeutendsten Vertretern man Max Scheler und Emmanuel Mounier zählen darf. Allerdings propagierten auch die Faschismen und der Nationalsozialismus die Gemeinschaft als Keimzelle von Staat, Volk und Rasse; nur waren ihre totalitären Ansätze in Wirklichkeit darauf ausgerichtet, die vorgefundene “Masse” durch positiven und negativen Zwang zu organisieren und zu mobilisieren.
Der Mißbrauch des Gemeinschaftsbegriffs in diesem Zusammenhang erklärt einen Teil der Aversion gegen den Terminus in der Nachkriegszeit. Neben dem politischen Generalverdacht spielte dabei auch der Vorwurf mangelnder Modernität eine Rolle. Die Atomisierungstendenzen, die in den vergangenen Jahrzehnten immer deutlicher erkennbar wurden, haben allerdings wesentlich dazu beigetragen, die Gemeinschaft zu rehabilitieren. Das hat einmal seinen Grund im “Leistungsvorteil der Gruppe” (Peter R. Hofstätter), geht aber auch zurück auf die Wahrnehmung seelischer Defizite durch Gemeinschaftsverlust. Hier ist vor allem auf den Kommunitarismus hinzuweisen, der wenigstens für einige Zeit Einfluß auf die politischen Debatten nehmen konnte, obwohl seine Vorstellung von Gemeinschaft in wesentlichen Punkten unscharf blieb.
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Zitate:
Viele Menschen leben ihr Leben ohne ein einziges echtes Gemeinschaftserlebnis. Die meisten anderen verwirklichen kaum jemals mehr als die Verbindung mit zwei oder drei Personen. Eine wahre Liebe, eine wahre Familie, eine wahre Freundschaft, wer kommt dahin? Der ganze Rest hält für Gemeinschaften, was Gesellschaften sind, mehr oder weniger unpersönliche Konglomerate.Emmanuel MounierAlle Gefühle und Freuden können aufhören, das Gefühl des Vaters und der Mutter, die Freude an ihren wohlgeratenen Kindern hört nie auf. Und für die Kinder sind die Eltern das wandelnde und gleichsam sichtbare Ebenbild Gottes. Daher ist also die Familie der Inbegriff von Eltern und Kindern, die natürlichste und die innigste Körperschaft auf Erden. Durch diese Bande wird der Mensch erst sanft, gut und mitleidig, er wird ein Wächter der Sitte und der Zukunft, der ja seine Kinder angehören. Darum ruht der Staat am besten und am dauerndsten in einem wohlgeordneten und gesitteten Familienleben.Adalbert Stifter
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Literatur:
- Alain de Benoist (Hrsg.): Communaut-?, Krisis 8 (1994) 16
- Amitai Etzioni: Der dritte Weg zu einer guten Gesellschaft, Hamburg 2001
- Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart [1981/1987], zuletzt Frankfurt a.M. 2002
- Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft [1924], zuletzt Frankfurt a.M. 2002
- Max Scheler: Vom Umsturz der Werte, Gesammelte Werke, Bd 3, zuletzt Bonn 2007
- Friedrich Tenbruck: Freundschaft — Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen, in: ders.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, Opladen 1989, S. 227–250
- Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie [1887], zuletzt Darmstadt 2005