Grundlinien der Philosophie des Rechts — Georg Wilhelm Hegel, 1821

Mit sein­er Recht­sphiloso­phie ent­fal­tet Hegel einen völ­li­gen Neuansatz, der Recht, Moral­ität und Sit­tlichkeit (Ethik, Rechts-und Staat­sphiloso­phie) in ihrer notwendi­gen Kom­ple­men­tar­ität erken­nt und in die Lehre vom sit­tlichen Staat mün­det. Die Recht­sphiloso­phie, die als Grun­driß den Hör­ern von Hegels ein­schlägi­gen Berlin­er Vor­lesun­gen an die Hand gegeben wurde, enthält die Sub­stanz der Hegelschen Lehre vom objek­tiv­en Geist. Sie ist zugle­ich eine umfassende The­o­rie der mod­er­nen Welt seit der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion und ihrer Kohä­sion­skräfte und die Antwort auf deren Bün­delung.

Recht ver­ste­ht Hegel als Ver­wirk­lichung der Frei­heit. Auf allen Stufen sein­er Recht­sphiloso­phie geht es daher um die Real­isierung der Frei­heit, deren Abso­lut­set­zung Hegel als das Prinzip der neueren Zeit erken­nt.

1. Unaufheb­bare Grund­lage jen­er Frei­heit ist nach Hegel das abstrak­te Recht, die all­ge­meine Anerken­nt­nis der Per­son als Rechtssub­jekt. Dies zeigt sich zunächst im Eigen­tum­srecht: Die for­male Frei­heit der Per­son objek­tiviert sich im Eigen­tum.

Im Ver­trag wird das Rechtsver­hält­nis zweis­tel­lig, da zwei freie Willen miteinan­der eine Übereinkun­ft tre­f­fen. Damit set­zt das Ver­tragsver­hält­nis stets ein Anerken­nungsver­hält­nis und die Kon­sti­tu­tion eines gemein­samen Wil­lens voraus. Strafe faßt Hegel als Wieder­her­stel­lung der Idee des Recht­es auf, die durch den beson­deren Willen des Ver­brech­ers ver­let­zt wor­den ist. Mithin stellt sich auch die Frei­heit der Per­son erst im Strafakt wieder her.

2. Unter dem Abschnitt »Moral­ität«, der sys­tem­a­tisch dem Ver­hält­nis des Wil­lens zur Hand­lung gewid­met ist, set­zt sich Hegel von Grund auf mit dem Kan­tis­chen, im kat­e­gorischen Imper­a­tiv kod­i­fizierten Sit­tenge­setz auseinan­der. Er anerken­nt Kant als Begrün­der der Sit­tlichkeit, insofern er sie auf ein meta­ph­ysis­ches Ver­nun­ft­prinzip gestellt hat. Zugle­ich wirft er Kant die Entzweiung vor, da der gute Wille in gän­zlich­er Abstrak­tion von der Wirk­lichkeit behan­delt ist. Selb­st die sit­tliche Sub­jek­tiv­ität ist nach Hegels Kant-Kri­tik entzweit. Das sit­tliche Sub­jekt (homo noumenon) erlegt das Sit­tenge­setz (nach Kant die »Kausal­ität aus Frei­heit«) dem empirischen Sub­jekt auf. Kant begreift den Men­schen als Brücke zwis­chen Phänom­e­nal­ität und idee­hafter Bes­tim­mung. Hegel sieht darin hinge­gen einen hia­tus irra­tionalis. Erst im Gewis­sen, genauer: in der Anerken­nt­nis zwis­chen der unschuldigen schö­nen Seele und dem Schuldigen, also im Akt der Verzei­hung, wird die Moral­ität ver­wirk­licht, nicht in ihrem Prinzip.

3. Unter der Rubrik der Sit­tlichkeit hat Hegel die Forderung der Konkretisierung und Insti­tu­tion­al­isierung der Moral in con­cre­to ein­gelöst. Dieser Abschnitt zer­fällt sein­er­seits in drei Sphären: die Fam­i­lie (a), die bürg­er­liche Gesellschaft (b) und der Staat ©. Die Fam­i­lie begreift Hegel als die erste, unmit­tel­bare und durch Liebe kon­sti­tu­ierte Form von Sit­tlichkeit.

Die bürg­er­liche Gesellschaft (b) ist ein­er­seits im Rück­griff auf die Aris­totelis­che poli­tiké koinon­ia konzip­iert, die Polis­ge­mein­schaft, in der der einzelne Men­sch erst zu sein­er Vol­lkom­men­heit und eudai­mo­nia kom­men kann. Eben­so richtig ist aber, daß Hegel, ori­en­tiert an den nation­alökonomis­chen Schriften von Adam Smith, den Zer­fall der Gle­ichung von res pub­li­ca sive soci­etas civilis diag­nos­tizierte und die bürg­er­liche Gesellschaft mit Markt und Arbeit gle­ich­set­zte. Recht­spflege und Polizei sind die bal­ancieren­den Kräfte inner­halb der Dynamik. Hegel hält jedoch auch fest, daß Entzweiung und Ent­frem­dung gle­ich­sam zwangsläu­fig in der bürg­er­lichen Gesellschaft dominieren wer­den, und er bemerkt, daß diese die voll­ständi­ge Frei­heit und unge­bun­dene Indi­vid­u­al­ität des einzel­nen ver­heißt, daß tat­säch­lich aber das unsicht­bare Netz der bürg­er­lichen Gesellschaft den einzel­nen deter­miniere, wom­it dem The­o­rem von der ord­nen­den »unsicht­baren Hand« (Adam Smith) eine neue Deu­tung gegeben ist.

Der Staat © ist für Hegel die Instanz, die die Kohä­sion­skräfte der Mod­erne bün­deln kann. Dabei spricht er sich im einzel­nen für den Vor­rang ein­er kon­sti­tu­tionellen Monar­chie aus. Rechtssys­tem­a­tisch ist es ungle­ich wichtiger, daß er über das Konzept des Hobbess­chen Leviathan-Staates hin­aus auf einen »sit­tlichen Staat« zielt. Erster­er sei nur Not-und Ver­standesstaat, er könne allen­falls tem­porär befrieden. Der sit­tliche Staat ist hinge­gen auf die Ver­nun­ftein­sicht und damit auf Philoso­phie begrün­det; ein Gedanke, hin­sichtlich dessen Hegel Fichte nah­este­ht. Mit Kant teilt Hegel die Lehre von der Gewal­tenteilung als unab­d­ing­bar­er Voraus­set­zung eines repub­likanis­chen Staatswe­sens. Die Ein­heit der Sou­veränität muß aber in der fürstlichen Gewalt, dem »Punkt auf dem I«, zum Aus­druck gebracht wer­den. Den Aufk­lärungs­gedanken des »Ewigen Friedens« und der damit ver­bun­de­nen »Erziehung des Men­schengeschlecht­es« miß­traut Hegel. Er sieht, unter dem Ein­fluß Napoleons, eine Macht­be­grün­dung aus fak­tis­ch­er Gewalt.

Hegels Recht­sphiloso­phie kam, in ähn­lich­er Weise wie seine Reli­gion­sphiloso­phie, unmit­tel­bar nach seinem Tod in den epochalen Stre­it zwis­chen Rechts-und Linkshegelian­ern. Unter dem Ein­fluß von Karl R. Pop­pers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde wurde sie der Ahn­herrschaft des marx­is­tis­chen Total­i­taris­mus geziehen. Es ist das große Ver­di­enst von Joachim Rit­ter und sein­er Schule, die Hegelsche Recht­sphiloso­phie als uneingeschränk­te Bejahung und Bestä­ti­gung der Frei­heits­forderung der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion freigelegt zu haben, die aber der prak­tis­chen Real­isierung eine philosophisch sit­tlich zu fundierende Ord­nung der Frei­heit ent­ge­genset­zt. Nach dem Ende der marx­is­tis­chen Hegel-Verze­ich­nun­gen ist es diese Kernein­sicht, die ger­ade Hegels Recht­sphiloso­phie als Grund­text eines frei­heitlichen mod­er­nen Kon­ser­vatismus ausweist. Es gibt gute Gründe, in ihr nicht nur eine Analyse der eige­nen Zeit, son­dern des Erbes der Mod­erne ins­ge­samt zu erken­nen, die jene Posi­tio­nen, die sich später gegen Hegel wen­den soll­ten, etwa die Reli­gion­skri­tik Feuer­bachs oder Niet­zsches »Tod Gottes«, schon als Momente in sich enthält.

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Zitat:

So soll diese Abhand­lung, insofern sie die Staatswis­senschaft enthält, nichts anderes sein als der Ver­such, den Staat als ein in sich Vernün­ftiges zu begreifen und darzustellen. Als philosophis­che Schrift muß sie am ent­fer­n­testen davon sein, einen Staat, wie er sein soll, kon­stru­ieren zu sollen; die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, son­dern vielmehr, wie er, das sit­tliche Uni­ver­sum, erkan­nt wer­den soll.

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Aus­gabe:

  • Gesam­melte Werke, Bd. 14, hrsg. v. Klaus Grotsch und Elis­a­beth Weiss­er-Lohmann, Ham­burg: Mein­er 2009

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Lit­er­atur:

  • Man­fred Riedel (Hrsg.): Mate­ri­alien zu Hegels Recht­sphiloso­phie, 2 Bde., Frank­furt a. M. 1975
  • Har­ald Seu­bert: Jen­seits von Sozial­is­mus und Lib­er­al­is­mus. Poli­tis­che Philoso­phie am Beginn des 21. Jahrhun­derts, München/Gräfelfing 2010
  • Lud­wig Siep (Hrsg.): G. W. F. Hegel – Grundlin­ien der Philoso­phie des Rechts, Berlin ²2005