Zehm, Günter — Philosoph, 1933–2019

Zehms Ein­fluß auf das kon­ser­v­a­tive Denken läßt sich vor allem an sein­er wöchentlichen Pankraz-Kolumne fest­machen, die als die dauer­hafteste Kolumne eines einzel­nen Autors nach 1945 gel­ten kann. Darin behan­delt Zehm, unter dem Pseu­do­nym Pankraz (des Schmollers, nach Got­tfried Kellers Nov­el­len­zyk­lus Die Leute von Seld­wyla), Ereignisse, Gedanken aber auch Neben­säch­lich­es aus dem Blick­winkel des gesun­den Men­schen­ver­standes, der den Utopi­en abgeschworen hat, deren Wirkun­gen Zehm in jun­gen Jahren zu spüren bekam.

Zehm, geboren am 12. Okto­ber 1933 in Crim­mitschau, trat 1952 der SED bei und nahm zunächst ein Studi­um am Insti­tut für Zeitungskunde (Leipzig) auf, um nach kurz­er Zeit zur Philoso­phie zu wech­seln, wo er bald zu den Lieblingss­chülern Ernst Blochs gehörte, der seit 1949 in Leipzig lehrte. 1956 erlangte er den Abschluß als Diplom­philosoph und trat eine Assis­ten­ten­stelle in Jena an, wo er mit der Ausar­beitung ein­er „Poli­tisch-the­o­retis­chen Konzep­tion“ begann, die mit seinen SED-Genossen scharf ins Gericht ging. 1957 wurde Bloch die Lehrtätigkeit unter­sagt, seine Schüler flo­hen in die Bun­desre­pub­lik, mußten sich in der Pro­duk­tion „bewähren“ oder kamen, wie Zehm, der wegen „Boykot­thet­ze“ zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, ins Gefäng­nis. 1960 gelangte er durch eine Amnestie in Frei­heit und kon­nte nach West-Berlin fliehen.

1963 wurde er in Frank­furt am Main (bei Theodor W. Adorno und Car­lo Schmid) mit ein­er Dis­ser­ta­tion zu Sartres Poli­tikver­ständ­nis pro­moviert. Zehm set­zte sich öffentlich mit der Illu­sion des Sozial­is­mus auseinan­der und warnte vor ein­er Verk­lärung der Zustände in der DDR. 1964 begann er seine jour­nal­is­tis­che Kar­riere bei der Welt, zunächst als Aus­land­sko­r­re­spon­dent, später als Feuil­letonchef und stel­lvertre­tender Chefredak­teur. Daß die Wahl auf die Welt fiel, war aus Zehms Sicht kon­se­quent, weil sich keine andere Zeitung so der Deutschen Frage annahm und DDR-Unrecht anprangerte. 1970 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis, den Jour­nal­is­ten­preis der deutschen Zeitun­gen.

Seit 1975 erschien in der Welt an jedem Mon­tag die Pankraz-Kolumne. Zehm ver­stand diese Kolumne als Kor­rek­tiv zu dem erfol­gre­ichen Angriff der 68er auf Staat und Gesellschaft. Gle­ichzeit­ig kommt darin eine Ernüchterung zum Aus­druck, die sich mit dem Ungenü­gen der Welt abge­fun­den hat, ohne zu resig­nieren. Die immer wiederkehren­den Grun­daus­sagen sind: Die Hoff­nung auf Ret­tung darf man nicht aufgeben. Es bedarf der Insti­tu­tio­nen als Halt des Men­schen. Es geht um den Einzel­nen, der nicht ein­er Utopie zum Opfer fall­en darf. Es gibt keine ein­fachen Lösun­gen.

Nach dem Tod Axel Springers 1985 kam es bei der Welt zu einem poli­tis­chen Kur­swech­sel und Zehm mußte die Zeitung ver­lassen. Die Pankraz-Kolumne erschien noch bis 1990 in der Welt, dann über­nahm sie der Rheinis­che Merkur. Seit 1994 ist sie in der Jun­gen Frei­heit zu lesen. Sei­ther ist Zehm dort auch als Autor vertreten und mit ihm kamen weit­ere ehe­ma­lige Springer-Jour­nal­is­ten, wie Carl Gustaf Ströhm und Gün­ther Deschn­er.

Den „gesun­den Men­schen­ver­stand“, den die Pankraz-Kolumne ausze­ich­net, wählte Zehm auch als The­ma sein­er ersten Vor­lesung in Jena, wo er seit 1990, zunächst als Dozent später als Hon­o­rarpro­fes­sor für Philoso­phie, lehrt. Im Zuge dieser neuen Auf­gabe hat Zehm in seinen Vor­lesun­gen zahlre­iche The­men behan­delt, die er immer im Sinne ein­er Leben­sphiloso­phie, die das einzelne Phänomen würdigt, ohne alles zu kat­e­gorisieren, betra­chtet. Der „gesunde Men­schen­ver­stand“ ist bei Zehm eine „brauch­bare Meth­ode des Aushal­tens und des Sichzurechtfind­ens in der mod­er­nen Welt“. Diese als Wiedergut­machung für das erlit­tene DDR-Unrecht gedachte Pro­fes­sur wurde seit Ende des Jahres 2000 von der örtlichen Antifa skan­dal­isiert, was bun­desweit für Schlagzeilen sorgte. Der Vor­wurf lautete, u.a. wegen sein­er Mitar­beit bei der Jun­gen Frei­heit, auf Recht­sex­trem­is­mus. Zehm erhielt jedoch von der Uni­ver­sität­sleitung Rück­endeck­ung, die seine Aus­sagen durch die Mei­n­ungs­frei­heit gedeckt sahen. Zehm bestätigten diese Erfahrun­gen in seinem anhal­tenden Kampf gegen „Feigheit und Dummheit, Rechthaberei und Intol­er­anz“.

Gün­ter Zehm ver­starb am 1. Novem­ber 2019 in Bonn.

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Zitat:

Lerne unter­schei­den zwis­chen Kon­stel­la­tio­nen und Tat­sachen. Eine poli­tis­che Kon­stel­la­tion mag zwar furchter­re­gend sta­bil ausse­hen, wie für die Ewigkeit gebaut, indessen, wenn sie nicht auf solid­er Volks­ba­sis ruht, kann sie sich über Nacht ver­flüchti­gen wie Tau vor der Sonne.

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Schriften:

  • His­torische Ver­nun­ft und direk­te Aktion. Zur Poli­tik und Philoso­phie Jean-Paul Sartres, Stuttgart 1964
  • Pankraz und der gesunde Men­schen­ver­stand. Glossen aus der Lebenswelt gegen Dick- und Dünnbret­tbohrer, Köln/Graz/Wien 1988
  • Jenaer Vor­lesun­gen (9 Bde.), Schnell­ro­da 2004–2010
  • An der Kehre. Über die Krisen des Kap­i­tal­is­mus, des West­ens und der Demokratie, Berlin 2012

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Lit­er­atur:

  • Über den Tag hin­aus. Festschrift für Gün­ter Zehm, Berlin 2003
  • Erik Lehn­ert: Der Kolum­nist, in: Der Frei­heit eine Gasse. 25 Jahre Junge Frei­heit – eine deutsche Zeitungs­geschichte, Berlin 2011