Ratzinger, Joseph — Theologe, 1927–2022

Ratzinger, der Sohn ein­er Köchin und eines Gen­darmeriemeis­ters wurde am 16. April 1927 in Marktl/Inn geboren. Er studierte von 1946 bis 1951 Katholis­che The­olo­gie und Philoso­phie an der Philosophisch-the­ol­o­gis­chen Hochschule in Freis­ing und an der Lud­wig-Max­i­m­il­ians-Uni­ver­sität in München. Die Priester­wei­he erfol­gt am 29. Juni 1951 (zusam­men mit dem Brud­er Georg) im Freisinger Dom.

Joseph Ratzinger ging schon in sein­er Dis­ser­ta­tion über den Kirchen­be­griff bei Augusti­nus (1953) und erst recht in sein­er Habil­i­ta­tion­ss­chrift über die Geschicht­s­the­olo­gie Bonaven­turas (1957) von den Prä­gun­gen der Scholastik ab und wandte sich der Frage der Geschichtlichkeit und der mys­tis­chen Dimen­sion der The­olo­gie zu. Bere­its in den früh­esten Jahren war überdies das Ver­hält­nis von Glaube und Ver­nun­ft ein zen­trales The­ma Ratzingers.

Als junger Konzil­s­the­ologe fol­gte Ratzinger dur­chaus einem gemäßigten „aggiron­a­men­to“ (Papst Johannes XXIII) in dem Sinn, daß die bleiben­den Tra­di­tio­nen in der jew­eils neuen Weise der eige­nen Zeit zur Darstel­lung gebracht wer­den müssen. Als Konzils­ber­ater von Joseph Kar­di­nal Frings hat­te Ratzinger wesentlichen Anteil an der For­mulierung ein­er ein­flußre­ichen Konzil­srede über die Trans­parenz der Kurie. Im Mai 1977 wurde er, seit 1969 Pro­fes­sor in Regens­burg, zum Erzbischof von München und Freis­ing berufen und bere­its einen Monat später in das Kar­di­nal­skol­legium aufgenom­men. 1982 berief ihn Papst Johannes Paul II. zum Präfek­ten der Glauben­skon­gre­ga­tion, ein Amt, das Ratzinger bis zu sein­er Wahl zum Papst am 19. April 2005 innehat­te.

Seine sou­veräne Ein­führung in das Chris­ten­tum (1968) wies zugle­ich deut­lich auf den klas­sis­chen Zusam­men­hang hel­lenis­tis­ch­er griechis­ch­er Kul­tur und christlichen Keryg­mas hin. In diesem bahn­brechen­den Buch war zugle­ich deut­lich erkennbar, daß die Mod­erne, ein­schließlich ihrer demokratis­chen Ver­faßtheit, nicht Maßstab für die Kirche sein könne.

Die Stu­den­ten­proteste des Jahres 1968 und die Ver­wech­slung von imma­nen­ter utopis­ch­er Selb­ster­lö­sung in marx­is­tis­chen Ide­olo­gien und dem tran­szen­den­ten Heil­sweg des Glaubens hin­ter­ließ bei Ratzinger tiefe Spuren. Sei­ther galt der ein­stige „Neuer­er“ als eher kon­ser­v­a­tiv­er The­ologe, ein Ruf, der sich in der Zeit als Vor­sitzen­der der Glauben­skon­gre­ga­tion in Rom und der Ver­fahren ins­beson­dere gegen Befreiungs­the­olo­gen wie Leonar­do Boff weit­er fes­ti­gen sollte, der aber die Kon­stanz seines Denkweges nicht überdeck­en darf.

Ratzinger kann als eng­ster the­ol­o­gis­ch­er Rat­ge­ber des pol­nis­chen Pap­stes Johannes Pauls II. gel­ten, der selb­st eher von der per­son­al­is­tis­chen Philoso­phie (Edith Stein, rus­sis­che Reli­gion­sphiloso­phie) bes­timmt war. In sein­er Zeit als Kurienkar­di­nal for­mulierte Ratzinger mehrfach und dif­feren­ziert seinen Vor­be­halt gegen den mod­er­nen Rel­a­tivis­mus (in sein­er Ansprache zur Eröff­nung des Kon­klaves 2005 sprach er von ein­er „Dik­tatur des Rel­a­tivis­mus“). Er forderte eine christliche Zivil­re­li­gion und die Wahrheit als Maßstab der Demokratie ein.

Ratzinger hat sowohl als Kar­di­nal wie auch in seinem bish­eri­gen Pon­tif­ikat mit großer intellek­tueller Durch­dringungskraft die Debat­ten der Zeit aufgenom­men und auf den christlichen Grund geführt. Sein Gespräch mit Haber­mas (Katholis­che Akademie in Bay­ern 2004) über die nicht säku­laren Dimen­sio­nen des neuzeitlichen Ver­fas­sungsstaates ist dafür exem­plar­isch. Beson­ders bemerkenswert ist es, daß sich Ratzinger der divergieren­den Wege der Wel­tre­li­gio­nen und ‑kul­turen bewußt ist und sie nicht in eine Katholis­che Ein­heit zu über­führen sucht. Das Chris­ten­tum als Liebesre­li­gion erschließt sich Ratzinger zufolge erst, wenn man es auch als Ver­nun­ftre­li­gion faßt.

Die Man­i­fes­ta­tion des Sakra­men­tal­en und der Eucharistie sucht Ratzinger ins­beson­dere durch die Schön­heit der Liturgie sicht­bar zu machen. Mod­ernistis­che Auswüchse des II. Vat­i­canum gilt es dabei zu kor­rigieren (Wiederzu­las­sung des Tri­den­tinis­chen Rit­us 2007). Am Beginn seines Pon­tif­ikates ent­fal­tete die außeror­dentliche Intellek­tu­al­ität in Verbindung mit den über­greifend­en Fun­da­menten kirch­lich­er Katholiz­ität eine ungewöhn­liche Strahlkraft, auch auf säku­lare Intellek­tuelle und Jour­nal­is­ten. Es war eine einzi­gar­tige Koinzi­denz, daß ein­er der her­aus­ra­gend­sten The­olo­gen sein­er Zeit auf den Stuhl Petri gelangte. Die Poli­tis­che Kor­rek­theit und kuri­ale Pan­nen mod­i­fizierten dieses Urteil.

Der Papst führt aus dem Anspruch und der Überzeugth­eit absoluter Wahrheit den Dia­log mit den Wel­tre­li­gio­nen, Ökumene ver­ste­ht er primär im Blick auf die Ostkirchen und die Über­win­dung des Schis­mas von 1054. Sein Pon­tif­ikat ist neben der zen­tralen Frage von Glauben und Wis­sen, dem auch seine Regens­burg­er Rede im Sep­tem­ber 2006 gewid­met war, auf den Glanz christlich­er Wahrheit bes­timmt, die er bei seinem Wash­ing­ton-Besuch 2008 beson­ders deut­lich machte. Die Sin­gu­lar­ität der Katholis­chen Kirche auch in ihrer apos­tolis­chen Sukzes­sion hat Benedikt XVI. wieder­holt unter­strichen. Aus hal­bof­fiziellen Äußerun­gen aus früher­er Zeit wird man annehmen dür­fen, daß er um die kat­e­chon­tis­che (Carl Schmitt) Rolle der Una Sanc­ta Eccle­sia weiß und ihr beson­deres Gewicht zuerken­nt. So ver­ste­ht er die Verpflich­tung der Kirche auch dahinge­hend, Gegengewicht zu ein­er sich zunehmend säku­lar­isieren­den und an materiellen Inter­essen ori­en­tierten Mod­erne zu sein.

Die bish­eri­gen Enzyk­liken wid­me­ten sich der zen­tralen Liebes­botschaft christlichen Glaubens (Deus car­i­tas est, 2006), wobei auch die physis­che Liebe zur Sprache kam; der Hoff­nung (Spe salvi, 2007), worin die Dif­ferenz zwis­chen tran­szen­den­ter Ver­heißung und inner­weltlichem Utopis­mus noch ein­mal aus­ge­tra­gen wurde. 2009 pub­lizierte der Papst seine Sozialen­zyk­li­ka Car­i­tas in ver­i­tate, welche die katholis­che Soziallehre auf das Weltal­ter der Glob­al­isierung hin fortschreibt.

Die Ein­heit der Kirche sieht Ratzinger eher in der Wiedergewin­nung tra­di­tion­al­is­tis­ch­er Kreise (Pius-Brud­er­schaft) und im Pri­mat des Petrusamtes auch für die anglikanis­che Kirche als in ein­er Kon­sen­sökumene sieht. Die aus dem poli­tis­chen Parteien­spek­trum motivierte Kri­tik trifft die tief­er­en Anliegen des The­olo­gen Joseph Ratzinger und des Pap­stes nicht. 

Papst Benedikt XVI. ver­starb am 31. Dezem­ber 2022 in der Vatikanstadt.

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Zitat:

Wo die rein­sten und tief­sten religiösen Über­liefer­un­gen ganz abgelegt wer­den, tren­nt sich der Men­sch von sein­er Wahrheit, er lebt gegen sie und wird unfrei. Auch die philosophis­che Ethik kann nicht schlechthin autonom sein. Sie kann nicht auf den Gottes­gedanken verzicht­en  und nicht verzicht­en auf den Gedanken ein­er Wahrheit des Seins, die ethis­chen Charak­ter hat. Wenn es keine Wahrheit vom Men­schen gibt, hat er auch keine Frei­heit. Nur die Wahrheit macht frei.

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Schriften:

  • Gesam­melte Schriften, Freiburg/Br. 2008ff (auf 16 Bde angelegt)
  • Escha­tolo­gie. Tod und ewiges Leben. Regens­burg 1966
  • Ein­führung in das Chris­ten­tum. Vor­lesun­gen über das Apos­tolis­che Glaubens­beken­nt­nis, München 1968
  • Dog­ma und Verkündi­gung, München 21973
  • Kirche, Ökumene und Poli­tik. Neue Ver­suche zur Ekkle­si­olo­gie, Ein­siedeln 1987
  • Salz der Erde. Chris­ten­tum und katholis­che Kirche an der Jahrtausendwende. Ein Gespräch mit Peter See­wald, München 1996
  • Aus meinem Leben (1927–1977), Stuttgart 1998
  • Glaube-Wahrheit-Tol­er­anz. Das Chris­ten­tum und die Wel­tre­li­gio­nen, Freiburg/Br. 22003
  • Werte in Zeit­en des Umbruchs, Freiburg/Br. 2005
  • Glaube und Ver­nun­ft. Die Regens­burg­er Vor­lesung, Freiburg/Br. 2007
  • Jesus von Nazareth, 2 Bde, Freiburg/Br. 2007/2011

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Lit­er­atur:

  • Heinz-Joachim Fis­ch­er: Benedikt XVI. Ein Porträt, Freiburg/Br. 2005
  • Alexan­der Kissler: Der deutsche Papst. Benedikt XVI. und seine schwierige Heimat, Freiburg/Br. 2005
  • Achim Pfeif­fer: Reli­gion und Poli­tik in den Schriften Papst Benedik­ts XVI. Die poli­tis­chen Imp­lika­tio­nen von Joseph Ratzinger, Mar­burg 2007
  • Wern­er Thiede (Hrsg.): Der Papst aus Bay­ern. Protes­tantis­che Wahrnehmungen, Leipzig 2010
  • Han­sjür­gen Ver­weyen: Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. Die Entwick­lung seines Denkens, Darm­stadt 2007