Moderne

Mod­erne wird oft syn­onym mit dem Begriff »Neuzeit« ver­wen­det, manch­mal aber auch nur auf die – europäis­cheEntwick­lung seit dem aus­ge­hen­den 18., begin­nen­den 19. Jahrhun­dert bezo­gen. Für eine weit­er gefaßte Ver­wen­dung spricht, daß die namengebende »Querelle des Anciens et des Mod­ernes« (»Stre­it zwis­chen den Alten und den Neuen«) auf eine Auseinan­der­set­zung zurück­weist, die 1687 in Frankre­ich aus­gelöst wurde, als man die Frage klären wollte, ob die Gegen­wart der Antike über­legen sei oder nicht. Während üblicher­weise der Vor­rang der Antike behauptet wurde, pos­tulierten die »Mod­er­nen« jet­zt die Über­legen­heit der Gegen­wart. Damit kam ein für die Mod­erne typ­is­ches Selb­st­be­wußt­sein zum Aus­druck, das in Europa seit der Renais­sance und der kopernikanis­chen Wende allmäh­lich aufge­baut wor­den war und sich wesentlich aus dem Stolz auf Ent­deck­un­gen und Erfind­un­gen nährte, die die Alten noch nicht gekan­nt hat­ten.

Die Vorstel­lung ein­er beson­deren Exzel­lenz der Gegen­wart gehörte aber erst seit dem Zeital­ter der Aufk­lärung zum Selb­stver­ständ­nis der Europäer in den entwick­el­ten Län­dern. Damit ist ein wichtiger Grund dafür ange­sprochen, warum sich der Begriff Mod­erne auch auf die bei­den let­zten Jahrhun­derte beschränken ließe. Denn ihre von Max Weber analysierten Haupt­merk­male – Tech­nisierung, Ratio­nal­isierung, Säku­lar­isierung, Indi­vid­u­al­isierung, Egal­isierung, Rück­bil­dung des primären, Zunahme des sekundären, dann des ter­tiären Sek­tors der Wirtschaft – haben erst infolge der Indus­triellen Rev­o­lu­tion einen all­ge­meineren Charak­ter gewon­nen. Sie bedeutete für die Men­schheit eine »absolute Kul­turschwelle« (Arnold Gehlen), die sich qual­i­ta­tiv von anderen his­torischen Umwälzun­gen unter­schied und einen Prozeß aus­löste, der nach und nach jeden Wider­stand nieder­warf oder zer­mürbte und sich von Europa aus auf die Welt aus­bre­it­ete.

Selb­stver­ständlich hat es früh Kri­tik an der Mod­erne gegeben, an der vor allem mit dem Auf­stieg des Bürg­er­tums und des Kap­i­tal­is­mus ein­herge­hen­den Zer­störung der gewach­se­nen Lebens­for­men, der Tra­di­tio­nen und der Gel­tung religiös­er Vorstel­lun­gen; auch die Zer­störung der Umwelt spielte in diesem Zusam­men­hang eine Rolle. Aber wed­er die mil­i­tante Abwehr von unten – etwa in Gestalt der »Maschi­nen­stürmerei« – noch das kon­ser­v­a­tive Behar­ren ver­mocht­en irgen­det­was gegen die Mod­ernisierung. Die Vorstel­lung von ein­er »Revolte gegen die mod­erne Welt« (Julius Evola) ist let­ztlich papieren geblieben, und noch das, was dem am näch­sten kam – die Entste­hung der »Fun­da­men­tal­is­men« – sah sich gezwun­gen, mod­erne Mit­tel anzuwen­den, um ein Zurück vor die Mod­erne zu erre­ichen. Wo man in den Besitz der Macht kam, hielt man denn auch an den, eigentlich ver­pön­ten, Mit­teln fest, weil sie unverzicht­bar sind, um sich poli­tisch zu behaupten.

Allerd­ings muß man hinzufü­gen, daß sich auch die großen Erwartun­gen, die mit dem »Pro­jekt« (Jür­gen Haber­mas) Mod­erne ver­bun­den waren, zer­schla­gen haben. Die Annahme, daß vor allem die tech­nis­che Entwick­lung zu einem immer weit­erge­hen­den – auch moralis­chen – Fortschritt führen werde, hat sich erledigt. Die Vorstel­lung, daß wir angesichts dieser Erken­nt­nis seit der Mitte des 20. Jahrhun­derts das »Ende der Neuzeit« (Romano Guar­di­ni) und damit den Anbruch ein­er »Post­mod­erne« erleben, hat aber bish­er nicht wirk­lich überzeu­gen kön­nen.

 

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Zitate:

Sie hat die buntscheck­i­gen Feu­dal­bande, die den Men­schen an seinen natür­lichen Vorge­set­zten knüpften, unbarmherzig zer­ris­sen und kein anderes Band zwis­chen Men­sch und Men­sch übrigge­lassen als das nack­te Inter­esse, als die gefüh­llose »bare Zahlung«. Sie hat die heili­gen Schauer der from­men Schwärmerei, der rit­ter­lichen Begeis­terung, der spießbürg­er­lichen Wehmut in dem eiskalten Wass­er ego­is­tis­ch­er Berech­nung ertränkt. Sie hat die per­sön­liche Würde in den Tauschw­ert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen ver­brieften und wohler­wor­be­nen Frei­heit­en die eine gewis­senlose Han­dels­frei­heit geset­zt.
Karl Marx

Ich halte für real­is­tisch, was viele Experten glauben: Schon Mitte dieses Jahrhun­derts wird es unter den dann möglicher­weise zwölf Mil­liar­den Men­schen zu erbit­terten Kämpfen um Ressourcen, um Land, Süßwass­er, Nahrung und fos­sile Energi­eträger kom­men. Die staatlichen Infra­struk­turen wer­den sich auflösen, Städte verö­den, die Über­leben­den müssen aufs Land ziehen, wo sie auf dem wirtschaftlichen und sozialen Niveau des Mit­te­lal­ters in Dor­fge­mein­schaften zusam­men­leben wer­den.
Hans Peter Duerr

 

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Lit­er­atur:

  • Julius Evola: Revolte gegen die mod­erne Welt [1934], zulet­zt Enger­da 2002
  • Hans Peter Duerr: Der Mythos vom Zivil­i­sa­tion­sprozeß, 6 Bde [1998–2002], zulet­zt Frank­furt a. M. 2002–2009
  • Paul Haz­ard: Die Krise des europäis­chen Geistes 1680–1715 [1939], zulet­zt Waren­dorf 2004
  • Pana­jo­tis Kondylis: Die Aufk­lärung im Rah­men des neuzeitlichen Ratio­nal­is­mus [1981], zulet­zt Ham­burg 2002