Mythos

Mythos ist das griechis­che Wort für »Erzäh­lung«, wobei es schon in der Antike einen Beik­lang haben kon­nte von »nur eine Erzäh­lung«, also nichts, was der kri­tis­chen Über­prü­fung stand­hält. Damit wird allerd­ings der Sinn des Begriffs verkan­nt. Mythos ist eigentlich eine »heilige Geschichte« (Mircea Eli­ade), also eine, die berichtet, was von entschei­den­der Wichtigkeit ist, weil es durch die Göt­ter getan wurde.

Mythen wer­den deshalb auch nur zu fest­gelegten Zeit­en erzählt oder rit­uell nachvol­l­zo­gen, wobei die Akteure in die starke Zeit vor aller Zeit – ille tem­pore – zurück­kehren, als die Göt­ter jedes Wesen und jedes Ding macht­en und den Zusam­men­hang zwis­chen ihnen stifteten. Die ein­flußre­ich­sten Mythen waren deshalb Schöp­fungsmythen, für die sich uni­ver­sal nur eine verblüf­fend kleine Zahl von Konzepten find­et. Daneben spiel­ten Helden- oder Erlösermythen eine Rolle sowie Wel­tun­ter­gangsmythen.

Unter dem Ein­fluß der bib­lis­chen Lehre hat sich in Europa eine radikale Mythenkri­tik entwick­elt, ohne daß deshalb alle mythis­chen Ele­mente der christlichen Reli­gion aufge­hoben oder die Entste­hung neuer Mythen (etwa der Grals-Mythos im Mit­te­lal­ter) ver­hin­dert wurde. Erst die Aufk­lärung stellte sich auf den Stand­punkt eines kon­se­quenten Ratio­nal­is­mus, der dem Mythos jede Berech­ti­gung bestritt.

In ihrer Per­spek­tive erschien er nur als defiz­itäre The­o­rie, der Weg hat­te »vom Mythos zum Logos« zu führen. Gegen diese Auf­fas­sung gab es nicht nur the­ol­o­gis­che (Vertei­di­gung des Mythos als Pro­pri­um der religiösen Vorstel­lung über­haupt), son­dern auch ästhetis­che Ein­wände, wie sie zuerst die Roman­tik ver­trat (Vertei­di­gung des Mythos wegen sein­er Irra­tional­ität und der darin liegen­den schöpferischen Qual­ität), und philosophis­che, die die »Wahrheit des Mythos« (Kurt Hüb­n­er) mit der ihm eige­nen Ontolo­gie begrün­de­ten, die im let­zten sowenig beweis­bar sei wie jede andere.

Von solch­er Apolo­gie des Mythos ist eine andere Vertei­di­gung zu unter­schei­den, die den Begriff eher als Chiffre ver­wen­det, im Sinne eines »Kampf­bildes« (Georges Sorel), das heißt ein­er anschaulichen, sehr stark gefühlsmäßig aufge­lade­nen Vorstel­lung von der Ent­ge­genset­zung zwis­chen Wir und Nicht-Wir, Fre­und und Feind. Der­ar­tige Mythen haben eine außeror­dentliche Bedeu­tung für die Stiftung und Sta­bil­isierung kollek­tiv­er Iden­tität. Sie gehen auf spon­tane Akzep­tanz zurück und gewin­nen ihre Überzeu­gungskraft aus der hohen sym­bol­is­chen Qual­ität, die ihnen eignet, nicht aus der Argu­men­ta­tion. Ihnen fehlt das Gemachte ein­er Utopie und sie spornen zur Begeis­terung, nicht zur Reflex­ion an, was erk­lärt, weshalb sie die aktivis­tis­che Rechte für sich reklamiert, während die Linke ihnen im all­ge­meinen mit Miß­trauen oder Ablehnung gegenüber­ste­ht.

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Zitate:

Man würde auch bess­er tun, von einem mythis­chen Raume als von ein­er mythis­chen Zeit der Men­schheit zu reden. In der Epoche des Mythus ist noch alles beieinan­der. Die zeitliche Tren­nung hat noch nicht stattge­fun­den.
Alfred Baeum­ler

 

Ich habe als bedeut­same Beispiele von Mythen diejeni­gen ange­führt, die durch das Urchris­ten­tum, durch die Ref­or­ma­tion, die Rev­o­lu­tion, die Anhänger Mazz­i­nis aufgestellt wur­den; ich wollte zeigen, daß man nicht ver­suchen darf, der­ar­tige Sys­teme von Bildern zu analysieren, so wie man eine Sache in ihre Bestandteile zer­legt: daß man sie vielmehr als ein Ganzes his­torisch­er Kräfte nehmen und sich ins­beson­dere davor hüten muß, die nach­her vol­l­zo­ge­nen Tat­en mit den Vorstel­lun­gen zu ver­gle­ichen, die vor der Hand­lung gegolten hat­ten.
Georges Sorel

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Lit­er­atur:

  • Alfred Baeum­ler: Das mythis­che Weltal­ter [1926], zulet­zt München 1965
  • Dieter Borch­mey­er (Hrsg.): Wege des Mythos in der Mod­erne, München 1987
  • Mircea Eli­ade: Kos­mos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr [1949/1966], zulet­zt Frank­furt a.M. 2007
  • Kurt Hüb­n­er: Die Wahrheit des Mythos, München 1985
  • Georges Sorel: Über die Gewalt [1908/1928], zulet­zt Lüneb­urg 2007