Nahe Geschichte — Ernst von Salomon, 1936

Der Begriff des Nachkriegs, jen­er von rev­o­lu­tionären und gegen­rev­o­lu­tionären Ereignis­sen geprägten Epoche bewaffneter Unruhen und bürg­erkriegsähn­lich­er Kämpfe zwis­chen 1918 und 1924, in der die Weimar­er Repub­lik unter den Zwän­gen der Entente und Ver­sailles sowie Angrif­f­en inner­er und äußer­er Feinde nur müh­sam in ihre Rolle als Nach­fol­ger des deutschen Kaiser­re­ich­es fand, ist heutzu­tage nahezu vergessen. Die Zeit zwis­chen den Weltkriegen wird ger­ade von der deutschen Geschichtss­chrei­bung vor­rangig unter dem Aspekt des Auf­stiegs des Nation­al­sozial­is­mus betra­chtet.

Diesem Umstand ist es wohl auch geschuldet, daß die vorhan­de­nen Darstel­lun­gen der deutschen Nachkriegskämpfe mehrheitlich vor 1945 ver­faßt wur­den. Auf­fäl­lig ist dabei allerd­ings die – je nach Zeit­punkt des Erscheinens – unter­schiedliche Betra­ch­tung und Bew­er­tung der Freiko­rps und Wehrver­bände, die in den Anfangs­jahren der Weimar­er Repub­lik zum Schutz der Gren­zen im Osten und im Baltikum kämpften, aber auch im Innern des Reich­es bei der Nieder­schla­gung spar­tak­istis­ch­er Unruhen und sep­a­ratis­tis­ch­er Bewe­gun­gen zum Ein­satz kamen. Wur­den die Freiko­rps vor 1934 gerne als ver­we­gen­er Haufen aus Fron­tkämpfern und Land­sknecht­en beschrieben, in dem sich Vater­land­sliebe und Pflicht­be­wußt­sein mit Taten­drang und Aben­teuer­lust paarten, kam ihnen nach der Ent­mach­tung der SA und der Ermor­dung ihres Stab­schefs Ernst Röhm fast auss­chließlich die Rolle des Vorkämpfers bei der Abwehr des sich aus­bre­i­t­en­den Bolschewis­mus zu.

Unter diesem Aspekt stellt Ernst von Salomons ger­affter aber voll­ständi­ger Überblick über die Geschichte der Freiko­rps aus dem Jahr 1936 eine sel­tene Aus­nahme dar. Trotz der im Ver­hält­nis zu anderen Ein­sätzen der Freiko­rps rel­a­tiv aus­führlichen Schilderung des Abwehrkampfes gegen die Rote Armee im Baltikum 1919, geht Salomon wie kaum ein ander­er auch auf die ver­schiede­nen Beweg­gründe ein, sich ein­er der knapp hun­dert selb­ständi­gen Frei­weil­li­gen-Ein­heit­en anzuschließen. Sei es die »kriegerische Natur«, die nir­gend­wo anders einen Sinn find­en kon­nte als in »kriegerischen Hand­lun­gen«, oder die Not der Heimat und der Ruf der Pflicht. Auch die Aus­sicht auf Sied­lungs­land im Baltikum oder die Möglichkeit, über­haupt weit­er­hin in Sold zu ste­hen, lock­te so manchen zu den Freiko­rps, eben­so wie Aben­teuer­lust oder das Unver­mö­gen, sich in der neuen Zeit zurechtzufind­en.

Als Her­aus­ge­ber des Buchs vom deutschen Freiko­rp­skämpfer (1938) und zeitweiliger Schriftleit­er der Zeitschrift Der Reit­er gen Osten, ein­er Art Mit­teilungs- und Vere­ins­blatt ehe­ma­liger Freiko­rpsmit­glieder, zählt Salomon wohl zu den wichtig­sten Chro­nis­ten der Freiko­rps. Er ken­nt die Gemein­samkeit­en aber auch die Unter­schiede zwis­chen den einzel­nen Ein­heit­en, ken­nt deren jew­eilige Entste­hungs­geschichte und ihr Wirken in den ver­schiede­nen Etap­pen des Nachkriegs. Salomon weiß, es gibt nicht das Freiko­rps, son­dern die Absicht und der Ein­satz bes­tim­men den jew­eili­gen Charak­ter.

Als ehe­ma­liger Freiko­rp­skämpfer (u.a. Frei­williges Lan­desjägerko­rps, Freiko­rps von Lieber­mann, Freiko­rps Berthold, Organ­i­sa­tion Con­sul) weiß Salomon zudem um die Bedeu­tung des Freiko­rps­führers für dessen Ein­heit. Sein­er »Ini­tia­tive und Tatkraft« ver­dank­te das Korps sein Entste­hen und zumeist auch seinen Namen. Sein »Glück« und sein »Schick­sal« waren Glück und Schick­sal der Män­ner, die sich ihm unter­stellt hat­ten. Sein Ende als Führer war fast auch immer das Ende des Freiko­rps. Eine Tat-Gemein­schaft im Geiste der unbe­d­ingten Gefol­gschaft mit eige­nen Werten, Regeln und Geset­zen. Wer gegen diese ver­stieß, der ver­fiel der »Feme«.

Obwohl Salomon mit Nahe Geschichte den wohl kom­pak­testen Überblick der deutschen Nachkriegskämpfe lieferte, ist das Werk, im Gegen­satz zu sein­er Erzäh­lung Die Geächteten (1930), nach dem Krieg nicht wieder aufgelegt wor­den. (Seit 2009 kur­siert jedoch der Raub­druck ein­er nicht ganz zufäl­lig als »Bay­erische Holzver­w­er­tungs­ge­sellschaft« auftre­tende Gruppe lautete der Tarn­name der Organ­i­sa­tion Con­sul, die das Buch »der deutschen Jugend neu gegeben« hat.)

Zwar ist Nahe Geschichte bei weit­em kein Werk, das die Freiko­rps als Vorkämpfer ein­er nation­al­sozial­is­tis­chen Weltan­schau­ung bzw. den Nation­al­sozial­is­mus als Vol­len­der des Freiko­rps­gedankens darstellt, wie es beispiel­sweise Edgar von Schmidt-Pauli in sein­er eben­falls 1936 ver­faßten Geschichte der Freiko­rps getan hat. Den­noch find­en sich auch in ihm vere­inzelt Stellen, die wohl als Kniefall vor dem Zeit­geist gedeutet wer­den müssen und eine Neuau­flage nach 1945 ver­hin­derten. Dies ändert jedoch nichts an seinem Wert für das Ver­ständ­nis der Freiko­rps­be­we­gung, wie Hagen Schulze 1969 in sein­er Unter­suchung Freiko­rps und Repub­lik 1918–1920 betonte. Nahe Geschichte, so Schulze, sei eine der »wenig bekan­nten pro­gram­ma­tis­chen Schriften der Freiko­rps­be­we­gung«, in welch­er der Ver­such unter­nom­men werde, »Unar­tikulier­bares, da nur psy­chol­o­gisch und sozi­ol­o­gisch Begreif­bares, in Worte zu fassen und so zu ein­er Sin­nge­bung ihres Ein­satzes zu gelan­gen«.

– — –

Zitat:

Der Bestand des Reich­es war durch den unglück­lichen Aus­gang des Weltkrieges bis in seinen Kern ange­grif­f­en. Keine Gren­ze war gültig, keine Macht mehr intakt, keine Autorität gesichert. Deutsch­land reichte genau so weit, wie die Front der Män­ner, die das Bewußt­sein in der Brust tru­gen: Bis hier­her und nicht weit­er.

– — –

Lit­er­atur:

  • Hannsjoachim W. Koch: Der deutsche Bürg­erkrieg. Eine Geschichte der deutschen und öster­re­ichis­chen Freiko­rps, Dres­den 2002
  • Ernst von Salomon (Hrsg.): Das Buch vom deutschen Freiko­rp­skämpfer, Berlin 1938