Depenheuer, Otto, Rechtswissenschaftler, geboren 1953

Seit 1999 ist der im Juli 1953 in Köln geborene Depen­heuer ordentlich­er Pro­fes­sor an der Uni­ver­sität zu Köln, Inhab­er des Lehrstuh­les für All­ge­meine Staat­slehre, Öffentlich­es Recht und Recht­sphiloso­phie und Direk­tor des Sem­i­nars für Staat­sphiloso­phie und Recht­spoli­tik. Zuvor hat­te er seit 1993 den Lehrstuhl für Öffentlich­es Recht und Recht­sphiloso­phie an der Uni­ver­sität Mannheim inne. Depen­heuer hat in zahlre­ichen Veröf­fentlichun­gen die Grund­lage und Legit­i­ma­tion des Staates, dessen Selb­st­be­haup­tung und das Ver­hält­nis zwis­chen Men­sch bzw. Bürg­er und Staat her­aus­gear­beit­et.

Bere­its in sein­er Habil­i­ta­tion­ss­chrift wies er auf die Män­gel der überkomme­nen Staat­s­the­o­rien hin: Die natur­rechtlichen, ratio­nal­is­tisch-indi­vid­u­al­is­tis­chen Ver­trags­the­o­rien (Gesellschaftsver­trag) han­deln lediglich von the­o­retis­chen, näm­lich kon­se­quent ratio­nal struk­turi­erten Men­schen, und den organ­is­chen Staat­s­the­o­rien fehlt der Blick für den Frei­heit­sanspruch des Men­schen. Depen­heuer entwick­elte hier­aus ein prag­ma­tisch-syn­thetis­ches Staatsver­ständ­nis, das sowohl den Frei­heit­sanspruch des einzel­nen als auch die Exis­tenzbe­din­gun­gen des Staates anerken­nt. Es beruht darauf, daß die Ver­trags­the­o­rien ihren Anspruch aufgeben, »alles von Anfang an erk­lären «, die Wirk­lichkeit »am Reißbrett« entwer­fen zu kön­nen, und daß die organ­is­chen The­o­rien anerken­nen, daß die vorstaatliche Frei­heit, der­er der Men­sch sich ein­mal bewußt gewor­den ist, dem Men­schen gemäß und unhin­terge­hbar ist.

Im Zen­trum von Depen­heuers Wirken ste­ht der Vor­wurf gegen die zeit­genös­sis­che deutsche Staat­srecht­slehre, unter dem anhal­tenden Ein­druck von Frieden, Frei­heit und Wohl­stand zur bloßen Ver­fas­sungs­dog­matik deformiert zu sein, die den Staat, seine Funk­tio­nen und Exis­tenzbe­din­gun­gen aus dem Blick ver­loren habe. Der Staat beschränke sich weit­ge­hend darauf, dem Bürg­er grun­drechtlich deter­minierte Recht­spo­si­tio­nen zuzuerken­nen. Staat­srä­son gehe auf in Ver­fas­sungsrä­son, Poli­tik kon­vergiere mit Ver­fas­sung­sex­egese (»Ver­fas­sungsin­tro­vertiertheit«, »Ver­fas­sungsautismus«). Diese Entwick­lung berge die Gefahr, daß notwendi­ge Anpas­sun­gen an exis­ten­tielle Bedro­hungsla­gen nicht mehr gelin­gen kön­nten.

Die Auf­gaben des Staates bemißt Depen­heuer in deut­lich­er Anknüp­fung an Carl Schmitt anhand bes­timmter, der Gestal­tungs­macht des Men­schen weit­ge­hend ent­zo­gen­er Geset­zmäßigkeit­en. Die apri­or­ische Ver­wiesen­heit des einzel­nen auf den Staat – kein Men­sch ist poli­tisch wel­tun­mit­tel­bar – begründe sich daraus, daß nur der Staat die Bedin­gun­gen von Frieden, Frei­heit und Sicher­heit gewährleiste. Zu Grund- und Men­schen­recht­en hat Depen­heuer eine skep­tis­che Posi­tion bezo­gen; sie leit­eten sich nicht aus einem Natur­recht her, son­dern auss­chließlich aus der  Grund­vo­raus­set­zung, daß es Men­schen gebe, die sich ihrer selb­st bewußt sind. Ihre Wirk­samkeit ergebe sich auss­chließlich aus der Tat­sache staatlich­er Gewährleis­tung.

Die Grund­funk­tion des Rechtsstaats ist dem­nach die Her­stel­lung eines friedlichen Nor­malzu­s­tandes. Dieser ist im Wege »sozialer Aus­d­if­feren­zierung« Wirk­lichkeit gewor­den; hier­her gehört auch das Ver­hält­nis­mäßigkeit­sprinzip als tra­gende Säule der Rechtsstaatlichkeit. Mit Errich­tung ein­er Frieden­sor­d­nung ver­schwindet aber die Gewalt nicht aus der Welt. Erfüllt der Staat seine ord­nungss­tif­tende Funk­tion nicht, wer­den andere Sozial­ge­füge diese Auf­gabe übernehmen, und zwar »zu ihren Bedin­gun­gen«. Daher zählt zu den Auf­gaben des Staates auch, sich gegen Angriffe zu vertei­di­gen, die den Staat nicht bloß zur Wieder­her­stel­lung der Recht­mäßigkeit her­aus­fordern, son­dern exis­ten­tiell in Frage stellen.

Diese Vertei­di­gungs­bere­itschaft erfordert eine Feindbes­tim­mung. Der »Feind« erscheint bei Depen­heuer etwa als von »zweifel­sre­sisten­ten Überzeu­gun­gen« getra­gen­er Angreifer, der – im exak­ten Gegen­satz zum ver­fas­sungsautis­tis­chen Staat des immer­währen­den Nor­malzu­s­tandes – das Über­maß zu sein­er Hand­lungs­maxime gemacht hat. Unter der Herrschaft des Grundge­set­zes hinge­gen werde der Feind nicht mehr definiert, son­dern »zum Grun­drecht­sträger ernan­nt«.

Depen­heuer hat in Anknüp­fung an žžJosef Isensee den Grun­drecht­en die Grundpflicht­en des Bürg­ers gegenübergestellt und hier­aus die The­o­rie des Bürg­eropfers entwick­elt: Aus der Grundpflicht, die Las­ten des Gemein­we­sens gemein­sam sol­i­darisch zu tra­gen und zu teilen, fol­gen Friedens‑, Gehorsams‑, Dienst‑, Hand­lungs- und Zahlungspflicht­en, weit­ge­hend auch die Pflicht des einzel­nen zur Gesun­der­hal­tung.

Als Grund­la­gen der Sol­i­darge­mein­schaft, die er als »brüder­lich« umschreibt, hat er die Merk­male »Homogen­ität« und »Bund« her­aus­gear­beit­et. Homogen­ität beze­ich­net eine his­torisch gewach­sene, wie auch immer geart­ete Gle­ich­heits­beziehung zwis­chen Men­schen, die alle anderen beste­hen­den Gle­ich­heits­beziehun­gen über­lagert. Der Bund tritt als Man­i­fes­ta­tion des sub­jek­tiv­en Wil­lens zum Leben in der konkreten Gemein­schaft in Erschei­n­ung, sobald eine Gesellschaft begin­nt, die Grund­la­gen ihrer Homogen­ität zu reflek­tieren und in Frage zu stellen. Bund und Homogen­ität greifen ineinan­der: Der Bun­des­gedanke kann bei abnehmender Homogen­ität den Sol­i­dar­itäts­gedanken weit­er­tra­gen.

Die Vorteile des Staates genießen, der sol­i­darischen Ein­stand­spflicht aber ent­ge­hen zu wollen, ver­stoße gegen das all­ge­meine Ver­bot des venire con­tra fac­tum pro­pri­um. Anläßlich der Debat­te um das Luft­sicher­heits­ge­setz hat Depen­heuer sehr deut­lich for­muliert, daß der um der Men­schen­würde sein­er Feinde willen auf Selb­st­be­haup­tung verzich­t­ende Staat an einem ethisch-moralis­chen Defekt lei­de.

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Zitat:

Im Gren­z­fall der Exis­ten­zsicherung des konkreten Staates kann sich diese Grundpflicht des Bürg­ers zur Verpflich­tung verdicht­en, den Staat, sein Gewalt­monopol, seine Frei­heitlichkeit und Rechtsstaatlichkeit zu vertei­di­gen und sich im Gren­z­fall für ihn aufzuopfern.

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Schriften:

  • Sol­i­dar­ität im Ver­fas­sungsstaat. Grundle­gung ein­er nor­ma­tiv­en The­o­rie der Verteilung, Habil. Bonn 1991 (ND 2009)
  • Selb­st­darstel­lung der Poli­tik. Stu­di­en zum Öffentlichkeit­sanspruch der Demokratie, Pader­born 2002
  • Tabu und Recht, Wies­baden 2003
  • Eigen­tum. Ord­nungsidee, Zus­tand, Entwick­lun­gen, Berlin 2004
  • Recht und Lüge, Mün­ster 2005
  • Staat und Schön­heit. Möglichkeit­en und Entwick­lun­gen ein­er Staatskalok­a­gath­ie, Wies­baden 2005
  • Selb­st­be­haup­tung des Rechtsstaates, Pader­born 2007