Falk, Walter, Literaturwissenschaftler, 1924–2000

Wal­ter Falk wurde am 8. Feb­ru­ar 1924 Sandweier bei Baden-Baden geboren. Nach der Rück­kehr aus Krieg und Kriegs­ge­fan­gen­schaft studierte er in Freiburg im Breis­gau Ger­man­is­tik, Philoso­phie, Anglis­tik und Roman­is­tik; Pro­mo­tion in Ger­man­is­tik 1957. Prä­gende Lehrer waren u. a. Max Müller, Mar­tin Hei­deg­ger und Wal­ter Rehm. Zwis­chen 1960 und 1965 wirk­te Falk als Lek­tor für Deutsche Sprache und Lit­er­atur an der Uni­ver­sität Madrid.

Er beschäftigte sich dabei u. a. mit dem Stierkampf und rück­te seine Forschun­gen in den Gesamtho­r­i­zont ver­gle­ichen­der Geistes- und Kul­turgeschichte. Seit 1965 war Falk Assis­tent und später Oberas­sis­tent an der Uni­ver­sität Mar­burg, 1968 wurde er mit ein­er Arbeit über die Epochen­struk­turen von Impres­sion­is­mus und Expres­sion­is­mus habil­i­tiert und 1971 zum Pro­fes­sor für Neuere Deutsche Lit­er­atur in Mar­burg ernan­nt.

Im Hin­blick auf seine lit­er­aturhis­torische Sicht und Arbeitsweise, aber auch seine grund­sät­zliche Auseinan­der­set­zung mit dem Marx­is­mus kam es zu erhe­blichen poli­tisch-ide­ol­o­gisch motivierten Kon­tro­ver­sen im »roten Mar­burg«. Zwis­chen 1976 und 1979 lehrte Falk als Gast­pro­fes­sor an der Uni­ver­sität Kairo und stellte umfassende lit­er­atur- und kul­turver­gle­ichende Stu­di­en an, die seine Frage nach ein­er uni­ver­sal­his­torisch fest­stell­baren Ord­nung der Geschichte ver­tieften und erweit­erten. 1989 wurde er emer­i­tiert. Er ver­ab­schiedete sich mit ein­er Vor­lesung über Evo­lu­tion und
Schöp­fung, aus­ge­hend von der Zeitkonzep­tion der neuen Physik, die ins­beson­dere Stephen Hawk­ing for­muliert hat­te. Bis zu seinem Tod leit­ete er den Mar­burg­er Kreis für Epochen­forschung, der sich nicht zulet­zt als Anti­do­tum zu der gesellschaftlich funk­tion­al­isieren­den Lit­er­a­tur­in­ter­pre­ta­tion ver­stand. Eben­falls bis 2000 hielt er weit­er­hin Vor­lesun­gen und Sem­i­nare an sein­er Uni­ver­sität.

Falk entwick­elte zur Deu­tung lit­er­arisch­er Texte ein struk­tu­r­an­a­lytis­ches Ver­fahren, die Kom­po­nen­te­n­analyse. Während der Struk­tu­ral­is­mus binäre Struk­tur­muster unter­sucht, geht es in der Kom­po­nen­te­n­analyse um die Ermit­tlung ternär­er Struk­turen, basierend auf ein­er Tri­ade von Aktu­al­ität, Poten­tial­ität und Resul­ta­tiv­ität. Im Gegen­satz zum wesentlich ahis­torischen Struk­tu­ral­is­mus bezieht die Kom­po­nen­te­n­analyse die his­torische Dimen­sion mit ein: Sie ermöglicht, von einzel­textlichen Basis­struk­turen aus­ge­hend, in einem Ver­gle­ichs- und Abstrak­tion­sprozeß
Epochen­struk­turen zu ermit­teln.

Die jew­eils gewonnenen Struk­turbe­funde, ver­standen als »Sinnstruk­turen«, ste­hen der weit­er­führen­den Inter­pre­ta­tion mit herkömm­lichen Ver­fahren der Lit­er­atur­wis­senschaft offen. Die Kom­po­nen­te­n­analyse wurde im Hin­blick auf The­o­rie und prak­tis­che Anwend­barkeit von Falk in enger Verbindung mit seinen Stu­den­ten fort­laufend ergänzt und präzisiert; erst­mals 1983 wurde sie in einem über 200 Seit­en starken Hand­buch sys­tem­a­tisch dargelegt. Die kom­po­nen­tial­an­a­lytis­chen Unter­suchun­gen ergaben für bes­timmte Zeiträume eine erhe­bliche Präzisierung der bish­eri­gen Epochen­vorstel­lun­gen. Darüber hin­aus kon­nte von Falk und seinen Schülern in fort­laufend­er Arbeit erst­mals eine ratio­nal begrün­dete Peri­o­disierung des gesamten 20. Jahrhun­derts gewon­nen wer­den.

Falks Werk im ganzen beruht auf ein­er umfassenden Ken­nt­nis der deutschen Geistes- und Lit­er­aturgeschichte vom Mit­te­lal­ter bis in die Mod­erne. Es ging ihm in sein­er Arbeit let­ztlich darum, den Geist von Zeital­tern sicht­bar zu machen. Insofern fol­gt sein wis­senschaftlich­es Werk einem ver­wandten Impuls wie die Zeit­geist­forschung von Hans-Joachim Schoeps.

Gegenüber Hei­deg­gers eksta­tis­ch­er Zeit­philoso­phie suchte er die Gegen­wart als Mitte der Geschichte, an der Gren­ze von Herkun­ft und Zukun­ft, zu pro­fil­ieren; Romano Guar­di­nis Diag­nose vom »Ende der Neuzeit« erhärtete Falk sowohl kom­po­nen­tial­an­a­lytisch als auch ideengeschichtlich. Die Zwis­chen­pe­ri­ode zwis­chen 1910 und 1920 deutete Falk, vor allem durch Werk­in­ter­pre­ta­tio­nen von Trakl, Rilke und Kaf­ka, als tiefen Ein­schnitt, in dem die säku­lare Epochen­struk­tur der Neuzeit endete und aus der tiefen Krise die Irre­duzier­barkeit der Gottes­frage sicht­bar wird. Diese Ein­sicht sei im »kollek­tivis­tis­chen Zeital­ter« seit 1920 wieder verdeckt wor­den.

In seinem nachge­lasse­nen, ein­drucksvollen Spätwerk über Glauben und Wis­sen um 2000 hat Falk die Neuzeit von der Metaphorik ein­er »Großen Welt­mas­chine« her inter­pretiert. Er sieht in der Zeit seit Ende des Zweit­en Weltkriegs in unter­schiedlichen wis­senschaftlichen und ästhetis­chen Ansätzen eine ratio­nal nicht ein­hol­bare Dimen­sion struk­turell Gestalt gewin­nen, und zwar eben­so in Kun­st und Lit­er­atur wie in den Wis­senschaft­san­sätzen von Chom­sky, Kuhn oder Girard. Die Diag­nose mün­det in die Erwartung, daß die Jahre um 2000 eine Zeit der Entschei­dung sein wür­den: ein­er Wieder­ent­deck­ung des tief­er­en Grun­des des Men­sch­seins oder seines endgülti­gen Ver­lustes.

Falk starb am 8. Sep­tem­ber 2000 in Mar­burg an der Lahn.

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Zitat:

Angesichts ein­er ver­wahrlosten Wirk­lichkeit kann sich eine Bewe­gung bilden, die das Beste­hende radikal verneint. Sie würde mit der anti­au­toritären Bewe­gung nur for­mal, als Bewe­gung der total­en Nega­tion, übere­in­stim­men… Aber so viel men­schlich­es Unglück durch die faschis­tis­chen Bewe­gun­gen verur­sacht wurde, wäre von ein­er solchen Peri­ode noch Schlim­meres zu befürcht­en… Ger­ade dies aber, die Grund­lage des Men­sch­seins, wäre in der kün­fti­gen Peri­ode das Angriff­sziel ein­er antag­o­nis­tis­chen Bewe­gung. Selb­stver­ständlich wür­den auch ihre Wort­führer behaupten, für die wahren Inter­essen der Men­schen zu stre­it­en. Und auch sie kön­nen ihre Anhänger find­en, wenn sich ein­mal ein kollek­tiv­er Wille zu ihren Gun­sten gebildet hat.

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Schriften:

  • Leid und Ver­wand­lung. Rilke, Kaf­ka, Trakl und der Epochen­stil des Impres­sion­is­mus und Expres­sion­is­mus, Salzburg 1961
  • Das Nibelun­gen­lied in sein­er Epoche. Revi­sion eines roman­tis­chen Mythos, Hei­del­berg 1974
  • Vom Struk­tu­ral­is­mus zum Poten­tial­is­mus. Ein Ver­such zur Geschichts- und Lit­er­atur­the­o­rie, Freiburg i. Br./München 1976
  • Der kollek­tive Traum vom Krieg. Epochale Struk­turen in der deutschen Lit­er­atur zwis­chen Nat­u­ral­is­mus und Expres­sion­is­mus, Hei­del­berg 1977
  • Hand­buch der lit­er­ar­wis­senschaftlichen Kom­po­nen­te­n­analyse. The­o­rie, Oper­a­tio­nen, Prax­is ein­er Meth­ode der Neuen Epochen­forschung, Frank­furt a. M. 1983 (2. erw. Aufl., Taunusstein 1996)
  • Epochale Hin­ter­gründe der anti­au­toritären Bewe­gung. Ein Beitrag zur lit­er­atur­wis­senschaftlichen Diag­nose der Sozialgeschichte, Frank­furt a. M./Bern 1983
  • Des Teufels Wiederkehr. Alarmierende Zeichen der Zeit in der neuesten Dich­tung, Stuttgart/Bonn 1983
  • Die Ord­nung in der Geschichte. Eine alter­na­tive Deu­tung des Fortschritts, Stuttgart/Bonn 1985
  • Die Ent­deck­ung der poten­tialgeschichtlichen Ord­nung, 2 Bde., Frank­furt a. M. 1985
  • Wis­sen und Glauben um 2000. Zu ein­er welt­be­we­gen­den Prob­lematik und ihrer Herkun­ft. Aus dem Nach­laß hrsg. u. ein­gel. v. Har­ald Seu­bert, Pader­born 2003.

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Lit­er­atur:

  • Hel­mut Berns­meier/Hans-Peter Ziegler (Hrsg.): Wan­del und Kon­tin­u­um. Festschrift für Wal­ter Falk zum 65. Geburt­stag, Frank­furt a. M. 1992
  • Har­ald Seu­bert: Geschicht­sze­ichen zwis­chen den Zeit­en. Stu­di­en zur Epochengeschichte von 1770 bis 2000. Aus­gewählte Arbeit­en zu Sys­tem und Geschichte, Ham­burg 2005